Autonomes Fahren: Wer gestaltet die Zukunft der Kfz-Versicherung?

Unternehmen müssen sich jetzt positionieren, um im Wettbewerb nicht abgehängt zu werden.

Keyfacts:

  • Die großen Automobilhersteller planen noch in diesem Jahrzehnt die Serienfertigung von selbstfahrenden Autos.
  • Autonomes Fahren wird dafür sorgen, dass der jährliche Preiswettbewerb in der Kfz-Versicherung an Relevanz einbüßt.
  • Versicherer müssen sich positionieren – sonst könnten sie große Teile ihres Portfolios an andere Marktteilnehmer verlieren, ähnlich wie die Autohersteller bei Einführung der Elektromobilität.

Ich habe es einmal nachgesehen: Die ersten nennenswerten Entwicklungen beim fahrerlosen oder automatisierten Fahren liegen schon fast 20 Jahre zurück. Und schon 2015 wurden bei der CES in Las Vegas die ersten seriennahen Modelle vorgestellt. Deutsche Hersteller waren mit dabei.

Das Fahrtziel nennen, sich im Sitz zurücklehnen und ausgeschlafen am Zielort ankommen: So malen sich viele die Automobilität der Zukunft aus. Geht es nach den Automobilherstellern, wird diese Vision bald Wirklichkeit werden. Und nach einigen Jahren der Zurückhaltung investiert die deutsche Automobilindustrie inzwischen massiv, zum Beispiel in die Serienfertigung von Elektrofahrzeugen.

Doch wenn (auch) in diesem Herbst die Wechselsaison bei der Kfz-Versicherung ins Haus steht und die Diskussion um Preise und Tarife entbrennt – der grundlegende Wandel hin zu neuen Produkten wird in diesem Zuge wohl wenig Beachtung finden. Das muss sich ändern, wenn Versicherer wollen, dass ihnen Teile des Marktes von neuen Wettbewerbern streitig gemacht werden.

Weg zum autonomen Fahren bedingt auch einen Wandel der Kfz-Versicherung

Denn je weiter die technologischen Lösungen beim autonomen Fahren voranschreiten, desto tiefer könnten die Verwerfungen im Versicherungsgeschäft werden. Wer versichert künftig solche Fahrten mit autonomen Autos? Man muss kein Visionär sein, um festzustellen, dass autonomes Fahren den im Herbst jährlich wiederkehrenden Preiswettbewerb in der Kfz-Versicherung weniger relevant machen wird.

Die Tech-Giganten stehen schon in den Startlöchern: Amazons Vorstöße in den Versicherungsmarkt sind nur ein Beispiel. Auch Tesla übt sich in Deutschland mit Helvetia als Risikoträger bereits im Versicherungsgeschäft. Ebenso sehen viele Insurtechs hier eine Chance für den Markteintritt. Die deutsche Versicherungsbranche reagiert auf diese Neuerungen ähnlich abwartend wie die Automobilindustrie vor einigen Jahren auf neue Technologien im Bereich der Elektromobilität und Software.

Ich habe drei Thesen zum Status quo:

  1. Die Versicherungsindustrie hat es in der jüngeren Vergangenheit versäumt, sich mit den Daten für die Mobilität der Zukunft ernsthaft auseinanderzusetzen. Das ist kritisch, weil es das Geschäftsmodell der Kfz-Versicherung als Risikoträger gefährdet. Während sich die Schadenhäufigkeit vermutlich reduzieren wird, kann die Schadenshöhe enorme Ausmaße annehmen, falls die Software in einer kritischen Verkehrssituation versagt.
  2. Es fehlt an der technologischen (industrie-)übergreifenden Dateninfrastruktur, um die Risiken bewerten zu können, die sich aus vernetztem bzw. assistiertem Fahren ergeben. Die Versicherungsunternehmen benötigen Zugang zu den Dateninfrastrukturen der Verkehrsnetze und der Automobilhersteller, um die Risikoanalysen durchzuführen.
  3. Kfz-Versicherer denken in der Portfoliosteuerung in Jahresscheiben und planen strategisch meistens mit einem Horizont von drei Jahren. Mobilitätsthemen der Zukunft spielen dabei, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle. Zwar gibt es die ersten Kfz-Versicherungstarife mit speziellen Leistungen für Elektro- und Hybrid-Fahrzeuge, jedoch keine konkreten Pläne für die Umsetzung von Tarifänderungen bei Nutzung von Assistenzsystemen.

Erschwerend kommt der Mangel an Talenten hinzu. Die Softwareingenieure der Automobilhersteller klagen über fehlende infrastrukturelle Voraussetzungen und einen Mangel an innovativer, vorwärtsgewandter Kultur im Vergleich zu den BigTechs. Für Versicherungen gilt das erst recht.

Aus den Versäumnissen der Autobranche lernen

Bei der Einführung von Telematiklösungen im vergangenen Jahrzehnt – damals als Mobilität der Zukunft propagiert – war schnell ersichtlich, wer den Eintritt mit einer eigenen Softwareplattform und mit eigenen Produkten im deutschen Markt wagt. Andere bedienten die Rolle des Risikoträgers oder setzten vollständig auf die Industrielösung des Versicherungsverbands GDV.

Eigene strategische Positionierungen und Investitionen sind finanziell risikoreich. Die großen deutschen Versicherer im Kfz-Bereich müssen sich hingegen positionieren, um nicht große Teile ihres Portfolios möglicherweise an andere Marktteilnehmer zu verlieren – eine Entwicklung, die in der Autobranche zu beobachten war, wo ausländische Wettbewerber früher in die Serienfertigung von Elektroautos eingestiegen sind.

Dem Markt vorausgehen oder anderen folgen?

Dabei sind die Positionierungsmöglichkeiten heute nicht grundlegend anders als noch vor einigen Jahren. Die skizzierten Szenarien erhärten sich insbesondere hin zur Vernetzung der Autos und autonomen Fahrzeugen. Die großen Automobilhersteller planen noch in diesem Jahrzehnt die Serienfertigung von selbstfahrenden Autos. Will ein Versicherungsunternehmen Innovator sein, oder will es später aufholen? Oder will man sich von der Kundenschnittstelle zurückziehen und als Risikoträger agieren? Wer eine Position als Innovator anstrebt, eventuell eine integrierte Partnerschaft mit einem Automobilhersteller sucht und die anstrengende Aufholjagd in einigen Jahren vermeiden will, sollte sich schon jetzt ernsthaft mit den folgenden Punkten auseinandersetzen:

Beschäftigung mit den Fahrdaten:

  • Wie sieht das Kfz-Versicherungsprodukt der Zukunft aus?
  • Was ändert sich durch Assistenzsysteme / selbstfahrende Fahrzeuge für das Risikomodell?
  • Welche Zusatzleistungen kann ich meinem Kunden anbieten?

Aufbau der Daten-/Softwareinfrastruktur:

  • Wie können die Datenräume industrieübergreifend und standardisiert geschaffen werden?
  • Wer könnte als Datenintermediär agieren und welche zusätzlichen rechtlichen (europäischen) Vorgaben bedarf es?
  • Wie sehen die Schnittstellen für die OEMs und weitere Marktteilnehmer aus?

Rechte und Pflichten in der Zusammenarbeit klären:

  • Welche regulatorischen und gesetzlichen Entwicklungen sind aus Perspektive der Versicherer eher zu erwarten?
  • Wer sollte die Hoheit über die Daten haben?
  • Wer kann die Datenräume für die Industrie orchestrieren?

Diese Fragestellungen sind nur ein Auszug aus einem weit umfangreicheren Katalog, den es zu beachten gilt. Grundsätzlich sollte die eigene Marktpositionierung mit der strategischen Ambition in zehn bis fünfzehn Jahren verglichen werden – und dabei sollten auch tradierte Geschäftspraktiken auf den Prüfstand kommen.

Neue Mobilität versichern: Jetzt Gestalterrolle einnehmen

Es gibt erste konzeptionelle Ansätze, wie ein Versicherungsunternehmen den Aufbau von Datenräumen vorantreiben und gemeinsam mit Partnern die Infrastruktur bereitstellen kann. Ein Blick auf die Marktdurchdringung zeigt: Noch gibt es Möglichkeiten der eigenen Gestaltung. Noch hat die Aufholjagd nicht den Druck und die Intensität erreicht, den wir in der Automobilwirtschaft beobachten. Das ist für die Versicherungsbranche ein gutes Zeichen.

Jetzt gilt es, die Gestalterrolle einzunehmen – nicht nur für das eigene Unternehmen, sondern für die Industrie im Ganzen. Denn wenn man die Szenarien konsequent weiterdenkt, steht das gesamte Geschäftsmodell infrage. Es ist Zeit zu handeln, will man die Abhängigkeit von anderen Marktteilnehmenden geringhalten oder ganz vermeiden.

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