Auf dem Weg zu einer EU-Sozialtaxonomie: Wie definiert man das „S“ in ESG?

Eine Annäherung an das Ausgestalten sozialer Nachhaltigkeit in einer EU-Sozialtaxonomie

Keyfacts:

  • In Anlehnung an die Umwelttaxonomie soll bald eine Taxonomie zur Identifizierung sozial nachhaltiger Investitionen folgen.
  • Eine Expertengruppe der Europäischen Union hat einen ersten Vorschlag veröffentlicht.
  • Das Problem: Im Bereich Soziales kann der Beitrag eines Unternehmens zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen weit weniger stringent erfasst werden als im Umweltbereich.
  • Finanzdienstleister sollten sich an der Debatte um die Ausgestaltung beteiligen, um an einem passenden und umsetzbaren Regelwerk mitzuwirken.

Das Ziel der Taxonomie-Verordnung der Europäischen Union (EU) ist es, Kapitalströme in nachhaltige Investitionen zu lenken – zum Beispiel in erneuerbare Energien oder die Kreislaufwirtschaft. Seit Anfang 2022 sind Finanzdienstleister verpflichtet, transparent darüber zu berichten, inwieweit sie ökologische und Umweltkriterien berücksichtigen.

Nach der E-Taxonomie (Environmental, das E in ESG) soll nun ein Regelwerk zur Klassifizierung sozial nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten (das S in ESG) entworfen werden.

Wie lassen sich S und E vereinbaren?

Erste politische Ansätze zur Definition von sozialer Nachhaltigkeit deuten darauf hin, dass eine S-Taxonomie noch größere Herausforderungen mit sich bringt als die E-Taxonomie. Beispielweise könnte sich die Vereinbarung von S- und E-Zielen als schwierig erweisen.

So wirken sich der Ausstieg aus fossilen Energien oder das Herunterfahren energieintensiver Industrien positiv auf Klimaziele aus. Dieses Vorgehen kann allerdings zum Verlust von Arbeitsplätzen in bestimmten Regionen führen sowie negative Auswirkungen für die lokale Gemeinschaft haben. Gerade in Deutschland kennen wir mit Blick auf das Ruhrgebiet und die lange Debatte um den Kohleausstieg diese Problematik.

Mangel an zuverlässigen Daten für eine umsetzbare S-Taxonomie

Das Thema Daten wirft auch im Zusammenhang mit der S-Taxonomie Fragen auf – insbesondere weil die Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der Daten meist noch unzureichend ist, was die Ableitung von konkreten Maßnahmen erschwert. Zudem erweist sich die Analyse und die Integration von S-Faktoren in Investitionsstrategien oft als problematisch. Deshalb müssen quantitative Maßstäbe für eine S-Taxonomie in vielen Bereichen von Grund auf neu formuliert werden.

Wir empfehlen Finanzunternehmen daher, sich bereits heute in diesem frühen Stadium an der Debatte über die Sozialtaxonomie zu beteiligen. So können politische Entscheidungsträger dabei unterstützt werden, den Anforderungen aus der Praxis gerecht zu werden und aussagekräftige Offenlegungspflichten für Anleger:innen und Kund:innen zu formulieren. In diesem Artikel geben wir einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen.

Folgen der Pandemie rücken Sozialtaxonomie auf der Agenda nach oben

Trotz der beschriebenen Herausforderungen besteht in der EU ein starker politischer Wille zur Einführung einer S-Taxonomie. Das ist zum Teil auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zurückzuführen: Laut dem UN-Bericht über die Ziele für nachhaltige Entwicklung 2021 hat die Pandemie einen Großteil der zuvor erzielten Fortschritte wieder zunichte gemacht. Beispielsweise stieg die extreme Armut 2020 erstmals seit der asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er Jahre wieder an.

Und Prognosen gehen davon aus, dass die weltweite Armutsrate bis 2030 sieben Prozent der Weltbevölkerung (das sind etwa 600 Millionen Menschen) erreichen wird, wenn nicht „sofortige und signifikante“ Maßnahmen ergriffen werden. Auch andere Indikatoren für soziale Nachhaltigkeit – zum Beispiel Ernährung (Hunger), Gesundheit, Bildung und Gleichstellung der Geschlechter – haben sich verschlechtert.

Aufbau der S-Taxonomie – der Vorschlag der „EU-Plattform“

Der Bericht einer Expertengruppe, der sogenannten EU-Plattform für nachhaltige Finanzen, beschäftigt sich mit diesen und weiteren Herausforderungen und ebnet den Weg für einen Legislativvorschlag der EU-Kommission. Der Bericht schlägt vor, dass die S-Taxonomie die Struktur der E-Taxonomie widerspiegeln sollte.

Vor allem in zwei Punkten soll sie aber von der E-Taxonomie abweichen: durch Teilziele, die verschiedene Aspekte der sozialen Zielsetzungen konkretisieren und durch die Verknüpfung des wesentlichen Beitrags mit den Investitionsausgaben (CapEx), den Betriebsausgaben (OpEx) oder dem Umsatz, um die S-Taxonomie mit den Berichterstattungsanforderungen des Unternehmens in Einklang zu bringen

Drei Ziele für sozial nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten

In den bestehenden Normen und Erklärungen wird häufig zwischen bürgerlichen und politischen Rechten einerseits und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten andererseits unterschieden. Diese Rechte sind jedoch voneinander abhängig und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Während viele wirtschaftliche Aktivitäten negative Auswirkungen auf die Umwelt haben, können die Schaffung von menschenwürdigen Arbeitsplätzen, die Zahlung von Steuern und die Produktion von sozial nützlichen Gütern und Dienstleistungen als gemeinwohlorientiert angesehen werden.

Die EU-Plattform schlägt daher vor, in der S-Taxonomie zwischen solchen inhärenten Vorteilen und den zusätzlichen Vorteilen zu unterscheiden, die direkt zur Verwirklichung von S-Zielen beitragen. Außerdem sollen die S-Ziele Interessengruppen berücksichtigen, für die eine Wirtschaftstätigkeit einen positiven Beitrag zu ihrem Leben und ihrer Existenzgrundlage leisten kann, also die Belegschaft eines Unternehmens (einschließlich der Beschäftigten in der Wertschöpfungskette), Endnutzer (also Verbraucher) und betroffene Gemeinschaften (direkt oder über die Wertschöpfungskette).

In diesem Zusammenhang formuliert die EU-Plattform drei Ziele, die sich jeweils an eine andere Gruppe von Beteiligten richten:

  • menschenwürdige Arbeit (auch für Arbeitnehmer:innen in der Wertschöpfungskette)
  • angemessener Lebensstandard und Wohlbefinden für die Endnutzer:innen
  • integrative und nachhaltige Gemeinschaften und Gesellschaften

Unterziele würden nach Maßgabe des Vorschlags Schlüsselaspekte wie Gesundheit und Sicherheit, Gesundheitsfürsorge, Wohnen, Löhne, Nichtdiskriminierung, Verbrauchergesundheit und Lebensunterhalt der Gemeinschaften betreffen.

„Do No Significant Harm” und Mindeststandards

Der Bericht der EU-Plattform definiert außerdem eine Reihe von sogenannten „Do No Significant Harm“-Kriterien (DNSH) und Mindeststandards. Außerdem wird eine weitere Liste für drei Arten von wesentlichen Beiträgen zu den Zielen vorgeschlagen:

  • Die Vermeidung und Bewältigung negativer Auswirkungen auf Arbeitnehmer:innen, Verbraucher:innen und Gemeinden
  • Einen zusätzlichen inhärenten sozialen Nutzen der Tätigkeit selbst (das heißt die Verstärkung der der Wirtschaftstätigkeit innewohnenden positiven Auswirkungen)
  • Unterstützende Tätigkeiten, die es anderen Tätigkeiten ermöglichen, sozialen Nutzen zu erbringen

Die Gewährleistung von Gerechtigkeit in der Transformation ist für die S-Taxonomie von besonderer Bedeutung. Der Übergang zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft erfordert grundlegende Veränderungen in vielen Sektoren, die tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben von Arbeitnehmenden und Gemeinschaften haben werden. Der nationale Kontext und die geografischen Gegebenheiten werden Einfluss darauf haben, ob Aktivitäten als sozial nachhaltig oder als sozial schädlich definiert werden können.

Die DNSH-Kriterien dienen demselben Zweck wie in der E-Taxonomie, jedoch müssen für die Unterziele detailliertere Anforderungen aufgestellt werden. Die Kriterien werden dort wichtiger sein, wo es schwierig sein könnte, Bedingungen für einen substanziellen Beitrag aufzustellen, oder wenn es darum geht, eine illegale Tätigkeit zu vermeiden und zu bekämpfen (zum Beispiel Kinderarbeit). Zum aktuellen Zeitpunkt ist noch nicht klar, ob es allgemeine DNSH-Kriterien (also identische Kriterien für alle wirtschaftlichen Aktivitäten) oder zielspezifische DNSH-Kriterien geben wird.

Debatte zur Sozial-Taxonomie erfordert Flexibilität

Die Antwort der EU-Kommission auf den Entwurf der Expertengruppe steht noch aus. Angesichts der langwierigen Diskussionen über weitere Level-2-Regeln im Rahmen der E-Taxonomie und der weiteren Überlegungen, wie die S-Taxonomie strukturiert sein sollte, ist der Zeitpunkt einer Stellungnahme und die Veröffentlichung eines Verordnungsentwurfs zur Festlegung der S-Taxonomie jedoch ungewiss. Bis dahin sollten sich Finanzinstitute an der Debatte beteiligen und Nachhaltigkeitskriterien zum Kern ihres Handelns machen.

 

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Sustainable Finance und ESG

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Sustainable Finance

Mit der Verabschiedung der Sustainable Development Goals (SDGs) und des Pariser Klimaabkommens im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen das wohl ehrgeizigste Projekt der Menschheitsgeschichte auf den Weg gebracht: Die Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Bei dieser Transformation kommt dem Finanzsektor eine herausragende Bedeutung zu. Denn mit seiner Hilfe lassen sich Kapitalströme in nachhaltige Investitionen lenken und Anreize für ein nachhaltigeres Handeln setzen. Außerdem wird so Nachhaltigkeit zu einem integralen Bestandteil des Risikomanagements und die Transparenz von Finanz- und Wirtschaftsaktivitäten deutlich erhöht.

Um diese Hebelwirkung des Finanzsektors für die gewünschte nachhaltige Transformation zu nutzen, hat die Europäische Kommission 2018 den EU-Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums verabschiedet. Er hat in Verbindung mit der EU-Taxonomie und einer Vielzahl weiterer Gesetze und Verordnungen – insbesondere zur ESG-Berichterstattung (Environment, Social, Governance) – dazu geführt, dass Finanzdienstleister zahlreiche Prozesse umgestalten und ihre Produktangebote neu ausrichten müssen. Dabei sind zahlreiche Entscheidungen zu treffen, die tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen und erhebliche Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg und das Geschäftsmodell haben.

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