Risikomanagement in Zeiten der Gamification

Die Auswirkungen eines Short-Squeeze-Großereignisses mit hoher medialer Aufmerksamkeit

Es passiert nicht häufig, dass ein Short Squeeze eine große öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Das letzte Short-Squeeze-Großereignis entstand im Rahmen des Übernahmekampfes zwischen zwei deutschen Automobilbauern 2008. Zu diesem Zeitpunkt war nur ein sehr kleiner Anteil von Aktien frei handelbar, während ein Vielfaches dessen leerverkauft wurde.
In diesem Jahr entstand ein weiteres Short-Squeeze-Großereignis mit hoher medialer Aufmerksamkeit. Die Aktie einer Kette von Computerspiele-Geschäften, eher bekannt als „Sleepy Stock“ eines Unternehmens mit veraltetem Geschäftsmodell, legte im Rahmen eines Short Squeeze um mehrere hundert Prozent zu. Eine Short-Quote von über 100 Prozent begünstigte den Short Squeeze.

Einiges an dieser Entwicklung ist neu

Der Grund für das sehr hohe mediale Interesse liegt im aktuellen Fall in der Tatsache, dass sich Privatanleger auf einer Online-Plattform zu den Chancen und Risiken austauschten und genau diese Privatanleger mit einer enormen Kaufdynamik den Short Squeeze auslösten. Verlierer waren mehrere Hedgefonds, die ihre Short-Positionen mit hohen Verlusten schließen mussten. Zeitungen berichteten in der Folge von einem Tauziehen zwischen Hedgefonds und Privatanlegern.

Das eigentlich Neue an der aktuellen Entwicklung ist also, dass es sich hier nicht wie 2008 um die Übernahmeschlacht zwischen großen Unternehmen handelt, sondern von einer Masse von Privatanleger hervorgerufen wurde, die sich in sozialen Medien verabredet und durch das Ausnutzen der veröffentlichten Information zur Short-Position einen Short Squeeze herbeigeführt haben. Im aktuellen Fall war dabei die meist diskutierte Ursache die hohe Short-Position. In anderen Fällen wurde wegen bahnbrechender Technologien oder hoher medialer Präsenz auf starke Anstiege spekuliert. Auch diese Aktien wurden in der Folge intensiv besprochen und häufig unter hoher Volatilität gehandelt. Implizite Volatilitäten im vierstelligen Bereich sind keine Seltenheit und fundamentale Daten des Unternehmens tangieren die Bewertungen nicht mehr.

Charakteristisch ist auch, dass viele der Anlegenden, die sich online absprechen, nicht nur mit einer Gewinnerzielungsabsicht ihre Investments tätigen, sondern auch der Unterhaltungswert im Vordergrund steht. So werden für Aktien Memes und Gedichte am laufenden Band produziert, es werden Lieder komponiert und dezidierte Fan-Communities gebildet. Der spekulative Aktienkauf ist damit zur Freizeitbetätigung geworden. Er entwickelt eine starke Dynamik, die mit einer entsprechenden Marktmacht einhergeht, die insbesondere bei kleineren Unternehmen spürbar wird. Wenn dann öffentliche Aufmerksamkeit dazu kommt, wird der Hype entsprechend befeuert. Dieser durch soziale Medien hervorgerufene Effekt auf die Kapitalmärkte wird durch die steigende Anzahl an Plattformnutzern immer unberechenbarer. Dazu analysieren professionelle Händler mit Machine-Learning-Verfahren die Trends in den sozialen Medien, nutzen sie aus und wirken somit als Verstärker.

Begünstigende Umstände

  • Die Covid-19-Pandemie hat neben den Lebensumständen der Menschen auch die Aktienmärkte verändert. Die Volatilität der Märkte (gemessen am VIX-Index) ist seit einem Jahr permanent auf einem Niveau, welches vorher allenfalls während der Finanzkrise ab 2007 und im Zusammenhang mit der Dotcom-Blase um 2000 gehalten wurde.
  • Die Geldmenge und die Liquidität im Kapitalmarkt ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen und steigt rasant weiter. Beispielsweise hat sich die Geldmenge M1 in US-Dollar in den letzten 12 Monaten um 50 Prozent gesteigert (nachdem sie sich vorher schon innerhalb von neun Jahren verdoppelt hatte).

Der Einfluss der Privatanleger an den Aktienmärkten ist deutlich gestiegen. Während bis vor einem Jahr nur rund 10 Prozent des Handelsvolumens an Aktienmärkten auf Privatanleger entfiel, sind es in wichtigen Märkten mittlerweile ca. 30 Prozent. Neben dem bereits erwähnten Unterhaltungseffekts der Investments ist dies vor allem durch das Angebot von gebührenfreiem Trading durch Neo-Broker möglich.

Auswirkungen auf das Risikomanagement

Da es momentan keine Anzeichen dafür gibt, dass sich diese Faktoren kurzfristig ändern, muss das Risikomanagement darauf reagieren, um nicht von starken Marktschwankungen überrascht zu werden. Auch wenn das Phänomen des Short Squeeze nicht neu ist, so wird es in Zukunft wichtiger denn je sein, Trends in sozialen Medien kontinuierlich zu verfolgen, zu erkennen und die eigene Risikoposition entsprechend auszurichten.

Es ist davon auszugehen, dass professionelle Anleger als Reaktion womöglich vermeiden werden, ihre Positionen offenzulegen bzw. offenlegen zu müssen, damit „der Schwarm“ diese Transparenz nicht nutzen kann, um ggf. eine Gegenposition einzunehmen. Während es traditionell für Aktien oft schon zu Abwärtsdruck führt, wenn ein großer Hedgefonds öffentlich angibt, diese für überbewertet zu halten, ist diese Angabe nun ein Risiko für den Hedgefonds selbst, sofern er eine Short-Position hält.

Für Investoren sind die in den sozialen Medien geführten Diskussionen aber nicht nur eine Gefahr, sondern können und werden wie letztlich alle statistisch erfassbaren Effekte an der Börse aktiv genutzt werden. Da die Absprachen auf sozialen Netzwerken öffentlich geschehen, können diese von Algorithmen nachverfolgt und auf gewinnbringende oder risikovermeidende Investitionsentscheidungen geschlossen werden. Aufgrund der Komplexität der dafür zu verwendenden Inputdaten, bietet sich ein Machine-Learning-Ansatz an. Die Konsequenz davon ist eine zunehmende Entkopplung der Aktienmärkte von der Realwirtschaft und den fundamentalen Daten.

Auch jene institutionellen Anleger, die nicht in der Lage sind, aktiv von den Entwicklungen zu profitieren, müssen mit ihren Risikomanagement reagieren. Die einfachste Methode der passiven Reaktion wäre, für die eigenen Investments die jeweiligen Trends auf sozialen Netzwerken zu verfolgen. Wenn die Erwähnung bestimmter Aktien auffällig ansteigt, müsste man reagieren, zum Beispiel durch ein Glattstellen von Positionen, vergrößerte Bevorratung oder das Schließen offener Gamma-Positionen, um Risiken zu reduzieren.

Schließlich bleibt abzuwarten, wie der Regulator auf diese Verwerfungen reagiert. Die Absprachen sorgen aktuell für deutliche Instabilitäten an den Märkten und der Regulator hat sich in der Vergangenheit immer engagiert gezeigt, wenn es darum ging, für Stabilität zu sorgen. Wer – wie in Vergangenheit geschehen – bei Abwärtsbewegungen Leerverkäufe einschränkt, kann auch mit demselben Argument in Aufwärtsbewegungen Käufe einschränken. Ein weiterer Ansatz wäre zum Beispiel, Margin Trading für Privatinvestoren für einzelne Wertpapiere oder gesamte Assetklassen einzuschränken. Intraday-Bewegungen von über 100 Prozent können Finanzinstitute, Broker und auch private Investoren an den Rand der Zahlungsunfähigkeit bringen. Es ist sicherlich ein schmaler Grat zwischen Bevormundung und Schutz der Kleinanleger und würde vermutlich in weiten Teilen der Öffentlichkeit als Schutz der Großinvestoren wahrgenommen werden (wie es ja beim „Kaufverbot“ für bei einigen der Neo-Broker auch war). Es ist aber auch ein sinnvoller Schritt, um Kleinanleger zu schützen, welche mit wenig spekulativen Investments bei den gleichen Brokern investiert haben.

Langfristig gewinnt dieses Spiel die Bank

Und auch wenn in den ersten Reaktionen die Privatanleger als die Sieger über die Hedgefonds gefeiert wurden, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass am Ende nicht die Privatanleger triumphieren, sondern institutionelle Anleger, unter Ausnutzung insbesondere auch technischer Möglichkeiten, langfristig die Oberhand über die Märkte auch hochspekulativer Aktien gewinnen. Dass die Kleinanleger an der Börse als „Dumb Money“ angesehen werden, wird wohl nicht so schnell der Vergangenheit angehören.

Ein Gewinner steht aber jetzt schon fest: Handelsplattformen profitieren von den enorm gesteigerten Umsätzen und dem gesteigerten Wert von Informationen zu Orders und Volumina. Die Branche berichtete kürzlich hervorragende Quartalsergebnisse und einen ausgesprochen positiven Geschäftsausblick.

 

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Gut aufgestellt für kommende Herausforderungen: Das Risikomanagement für Banken und Versicherungen weitergedacht.

Chief Risk Officer (CRO) in Banken, Versicherungen, Asset Managern und Immobilienunternehmen stehen unter Druck. Auf der einen Seite nehmen die regulatorischen Anforderungen und die Erwartungen interner Stakeholder an das Risikomanagement seit Jahren stetig zu. Es gilt, immer mehr Risiken und Risikotreiber zu erkennen, zu bewerten und zu steuern. Immer häufiger sind Stresstests und Analysen durchzuführen, und immer umfassender soll die Risikoorganisation über die entwickelten Aktivitäten berichten.

Auf der anderen Seite kann sich auch das Risikomanagement dem Effizienzdruck in der Finanzindustrie nicht entziehen. Es muss seine finanziellen und personellen Ressourcen kontinuierlich hinterfragen und Beiträge zu den unternehmensweiten Kostenzielen leisten. Auch eine klar erkennbare Ausweitung der regulatorischen Anforderungen reicht nicht aus, um hohe Kosten oder gar eine Aufstockung des Personals zu rechtfertigen – ein schwieriges Spannungsfeld.

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