Wer Diskussionen über die wachsende Bedeutung von Compliance als regelbasiertem Managementtool verfolgt, kann den Eindruck gewinnen, Integrität und Vertrauen wären grundsätzlich entbehrlich geworden und die Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns nicht mehr zeitgemäß. Doch bei genauer Betrachtung ist das Gegenteil der Fall.
Natürlich, Vertrauen allein genügt nicht, hat es noch nie. Deshalb entstand in den 1990er Jahren in den USA nach mehreren Wirtschaftsskandalen eine Serie von Regulierungen mit dem Ziel, Unternehmen systematisch auf das Einhalten bestimmter Gesetze und Regeln zu verpflichten. Compliance-Management war geboren, verbreitete sich global und ist heute aus dem Wirtschaftsleben nicht mehr wegzudenken.
In der Praxis sollen die Mitarbeitenden dabei durch ein feinmaschiges System aus Kontrollen und Sanktionen extrinsisch dazu motiviert werden, das Richtige im Sinne des Unternehmens zu tun. Die eigene Entscheidungskompetenz bleibt außen vor.
Regeln können den inneren Wertekompass nicht ersetzen
Seit den 1990er Jahren ist die Anzahl der Regeln enorm gestiegen, und auch die angedrohten Sanktionen werden kontinuierlich härter. Zugenommen haben aber auch die Zweifel an der Wirksamkeit dieses regelbasierten Systems. Immer häufiger werden Fragen laut: Kann Compliance Management in Reinform überhaupt funktionieren? Wenn Legalität nach dem Viel-hilft-viel-Prinzip in Systeme hineinkontrolliert werden kann, warum erleben wir dann weiterhin drastische Betrugsfälle und Wirtschaftsskandale? Geht der Glaube an wachsende Regeltreue durch mehr Kontrollen und mehr Sanktionen wirklich von einem realistischen Menschenbild aus?
Die Antwort auf die letzte Frage lautet: Eher nein. Weil Regeln den inneren Kompass, der uns zwischen richtig und falsch unterscheiden lässt, nicht ersetzen können. Weil der Erfolg von Compliance-Programmen davon abhängt, ob die Mitarbeitenden bestimmte Werte verinnerlicht haben und ob sie ihr Verhalten daran ausrichten.
Verstöße sind letztlich immer das Ergebnis individueller Entscheidungen. Studien zeigen: Kontrollen und das Risiko, ertappt zu werden, beeinflussen das Verhalten Einzelner weniger als die Überzeugung, dass das Fehlverhalten im Grunde der eigenen Wertehaltung und der des Umfelds widerspricht. Menschen bleiben eben – unabhängig von irgendwelchen Regeln – soziale Wesen, die sich vom eigenen Wertekompass und von dem ihrer Mitmenschen meist nicht lösen können und wollen.
Von Normen zu Werten
Deshalb brauchen wir eine Weiterentwicklung der normenbasierten zu einer wertebasierten, auf Integrität beruhenden Compliance, ansonsten bleibt sie ethisch blind und orientierungslos.
Ein normenbasierter Ansatz ist niemals in der Lage, sämtliche Anforderungen in allen denkbaren Entscheidungssituationen allein durch Regeln und Kontrollen zu erfüllen. Stattdessen lässt sich durch die Verbindung von Integrität und Compliance jene Komplexität, mit der Unternehmen heute konfrontiert sind, deutlich besser abbilden.
Um Wirtschaftskriminalität und Compliance-Verstöße zu verhindern, setzen normenbasierte Systeme vor allem darauf, „Gelegenheiten“ für solche Vergehen durch engmaschige Kontrollen zu reduzieren. Wertebasierte Systeme stärken die Unternehmenskultur, vermitteln positive Werte und setzen entsprechende Anreize.
Die Prinzipien des ehrbaren Kaufmannes fördern
Am effizientesten ist es, beide Ansätze miteinander zu verbinden. Denn wer eine Vertrauenskultur schafft und Selbstverantwortung stärkt, macht viele kostenintensive Kontrollen entbehrlich. Zudem honorieren (potenzielle) Investorinnen und Investoren eine solche Vertrauenskultur.
Integrität und Compliance sind also keine unvereinbaren Managementansätze, sondern sie ergänzen sich an ganz vielen Stellen, produzieren Synergien und gemeinsam bessere Ergebnisse als jeder Ansatz für sich allein. Deshalb sollten Unternehmen die Vorstellung vom ehrbaren Kaufmann nicht ad acta legen, sondern im Gegenteil aktiv fördern und in die Gestaltung des Compliance-Managements integrieren.