Generative künstliche Intelligenz (KI) wird die Steuerfunktion durch die Einführung automatisierter Prozesse transformieren. Das sagt Steuerberater Christian Stender, Partner, CTO Tax bei KPMG in Deutschland sowie Global Head of AI for Tax & Legal, KPMG International. Er betont aber auch: In Unternehmen gibt es manch falsche Vorstellung vom Umbruch in der Praxis. Im Interview erklärt der Experte innovative Optimierungsmöglichkeiten anhand von besonderen Anwendungsbeispielen für Steuerabteilungen. Außerdem zeigt er die drei größten Baustellen beim Implementieren von KI-Lösungen auf.
Herr Stender, generative KI ist da – heißt das, dass die Vollautomatisierung des gesamten Steuererklärungsprozesses nur noch eine Frage von Wochen ist?
Diese gigantische Erwartungshaltung haben in der Tat nicht Wenige. Der Hype ist enorm. Die Realität ist aber: Der Weg zum vollautomatisierten Steuererklärungsprozess ist eine Reise, auf der etliche Etappenziele zu nehmen sind. Es gilt, einzelne Automatisierungselemente sukzessiv zu integrieren, nicht zuletzt, um auch zweckmäßiges Change Management zu ermöglichen. Wir nennen es das Prinzip der kleinen Schritte.
Was bedeutet dieser strategische Ansatz in der Praxis?
Unternehmen sollten damit beginnen, die Produktivität ihrer Mitarbeitenden zu erhöhen, indem man ihnen niedrigschwellig KI-Helfer zur Verfügung stellt, die beim Bewältigen täglicher Aufgaben unterstützen. Stück für Stück geht man dann tiefer in die Struktur- und Prozesslandschaft und integriert KI-Helfer innerhalb der Business-Prozesse.
Wie kann man sich diese KI-Helfer vorstellen? Sind das KI-Programme, die der User Experience bei ChatGPT ähneln?
Es geht um sogenannte KI-Agenten, die für Nutzende Daten aus bereitgestellten Dokumenten auslesen und analysieren. Wir erstellen gemeinsam mit unseren Kunden Use Cases für Tax-Verantwortliche und kreieren Bots zum vereinfachten Lösen diverser manueller Aufgaben.
Können Sie Praxisbeispiele nennen?
Ein KI-Agent durchsucht etwa in wenigen Sekunden einen 100-seitigen Jahresabschluss, hochgeladen als PDF-Datei, auf Daten zur Gewinn- und Verlustrechnung. Ein anderer KI-Agent ist spezialisiert auf das Auslesen von Gewerbesteuerbescheiden. Diese Bescheide sind aufgrund des föderalen Systems in der Bundesrepublik nicht einheitlich aufgebaut und waren daher bislang komplex zu verarbeiten. Die KI-Agenten erkennen aber sofort alle wichtigen Informationen. Der große Vorteil ist, dass unstrukturierte Daten keine Hürde sind. Und: Mit unserem Self-Service-System für Steuerabteilungen können die KI-Agenten an individuelle Bedürfnisse angepasst werden.
Unternehmen können sich also für ihre spezifischen Anwendungsfälle ihre eigenen KI-Agenten bauen?
Genau. Es wird Know-how hinterlegt und ein passgenauer Prompt erarbeitet. Das ist nicht zeitaufwendig. Auch eine effiziente Weiterverarbeitung des Contents eines KI-Agenten ist übrigens möglich: Ergebnisse können etwa in E-Mail-Form verschickt werden oder direkt in eine Powerpoint-Präsentation einfließen.
Können Unternehmen den Ergebnissen der KI-Agenten vertrauen?
Ein elementarer Bestandteil unseres „Trusted AI“-Ansatzes ist Transparenz – und die ist insofern gewährleistet, als dass der gesamte Aufbereitungsprozess der KI-Agenten quasi durchleuchtet werden kann. Es kann nachverfolgt werden, wie KI-Agenten vom ursprünglichen Verständnis der Fragestellung bis zur Form der finalen Ergebnisbekanntgabe vorgegangen sind, inklusive Quellenangaben.
Das ermöglicht Steuerabteilungen tiefgreifende Veränderungen. Wie weit sind Unternehmen beim KI-Einsatz bereits?
Erfahrungsgemäß ist es in etlichen Unternehmen so, dass sie sich zwar strategisch bereits mit KI-Unterstützung für die Steuerabteilung beschäftigt haben, aber technologisches Know-how und der Zugriff auf die digitalen Tools noch fehlen. Es gibt auch eine beträchtliche Anzahl an Unternehmen, die zwar bereits durchaus eine Corporate-GPT-Lösung einsetzen könnten, also Zugriff auf KI-Agenten hätten, die sich aber mit der Einführung aus diversen Gründen noch nicht beschäftigt haben.
Was sind die größten Hürden bei der KI-Implementierung?
Die drei wesentlichen Themen sind Technology, Data & Talent. Zunächst einmal sind die digitalen Anwendungen bereitzustellen – eine Grundvoraussetzung. Hinzu kommt, dass auszulesende Daten vorhanden, exakt und fehlerlos sowie passend aufbereitet sind. Auf viele Daten im Unternehmen trifft das leider nicht zu. Hier sind häufig zunächst noch Hausaufgaben zu machen. Im Bereich Tax kommt hinzu, dass der Zugriff auf Primärquellen, darunter Gesetzestexte, aber auch auf Sekundärliteratur von Verlagshäusern notwendig ist. Und außerdem müssen die Mitarbeitenden befähigt werden, die generative KI einzusetzen.
Wie optimistisch sind Sie, dass die KI-Transformation in Steuerabteilungen deutscher Unternehmen zeitnah gelingen wird?
Ich bin sehr optimistisch. Die Innovationskraft ist groß und die Entwicklung dynamisch. Man sollte die KI-Chancen in der Steuerabteilung nicht überschätzen – aber auch nicht unterschätzen. Klar ist: Wer den End-to-end-Prozess in einzelne Tasks herunterbricht und sich stufenweise einer ganzheitlichen Transformation nähert, kann generative KI als außergewöhnlichen Werthebel einsetzen.
Vielen Dank für das Gespräch.
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