Interviewer: Herr Professor von der Gracht, Herr Kopp, alle reden über künstliche Intelligenz. Wer allerdings einen genauen Blick in den Alltag vieler Unternehmen wirft, stellt fest, dass zahlreiche Initiativen scheitern: Warum?
Prof. Dr. Heiko von der Gracht: Derartige Initiativen scheitern selten abrupt. Häufig sind die Warnzeichen früh sichtbar: Pilotprojekte erzielen gute Ergebnisse, bleiben aber im Versuchsstadium stecken und schaffen nicht den Übergang in den Regelbetrieb. Ein wesentlicher Grund ist die fehlende, konsolidierte Datenstrategie. Entscheidend ist nicht die Datenmenge, sondern Qualität, Struktur und Verfügbarkeit. Ohne belastbare Datenbasis lassen sich Modelle weder verlässlich entwickeln noch in bestehende Prozesse integrieren.
Andreas Kopp: Hinzu kommt, dass es an qualifizierten Fachkräften mangelt. Unternehmen finden zu wenige Datenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler oder Ingenieurinnen und Ingenieure für Maschinelles Lernen. Dadurch entstehen Bruchstellen zwischen Technologie und Fachbereichen. Ein weiteres Problem sind unklare Zieldefinitionen. Wenn der konkrete Mehrwert eines Projekts nicht greifbar ist, fehlt häufig auch die Energie, es konsequent umzusetzen.
Interviewer: Welche Rolle spielen technische und organisatorische Hürden?
Prof. Dr. Heiko von der Gracht: Die Rolle dieser Hürden ist erheblich. Modelle bleiben häufig isoliert, weil sie nicht in bestehende Systeme und Prozesse eingebettet werden. Ebenso wichtig sind kulturelle Widerstände: Mitarbeitende reagieren skeptisch, wenn Nutzen und Risiken nicht klar vermittelt werden. Hinzu kommen regulatorische Unsicherheiten, etwa im Bereich Datenschutz oder bei ethischen Fragestellungen, die oft erst spät berücksichtigt werden und Projekte zusätzlich verzögern.
Interviewer: Sie beide sind in der Allianz für KI-Kompetenz in Deutschland engagiert und sehen aus der Praxis, wie KI-Kompetenz in Unternehmen vorangebracht wird. Können Sie Beispiele nennen, wie Organisationen konkret technologische, organisatorische und kulturelle Hürden überwinden?
Andreas Kopp: Erfolgreiche Unternehmen starten mit einem klar umrissenen Anwendungsfall, einem echten Geschäftsproblem, das sich durch KI besser lösen lässt. Sie investieren von Beginn an in Dateninfrastruktur und Governance und setzen auf interdisziplinäre Teams. Dabei spielt Vertrauen eine zentrale Rolle. Systeme müssen erklärbar sein, und die Governance muss ethische Standards abbilden.
Prof. Dr. Heiko von der Gracht: Genau, und an diesem Punkt entscheidet sich oft, ob ein Projekt wirklich trägt. Technik allein reicht nicht – sie braucht ein Umfeld, das Veränderung zulässt. Erfolgreiche Organisationen kombinieren technische Leitplanken mit einer klaren Change-Strategie. Viele starten bewusst klein, mit Quick Wins in Bereichen wie HR, Logistik oder Kundenservice. So entsteht Vertrauen – sowohl in die Technologie als auch zwischen den Beteiligten. Eine umfassende Trusted-AI-Strategie muss dabei nicht sofort stehen, sie wächst mit den Erfahrungen. Wichtig ist nur: von Anfang an Transparenz und Verantwortung mitzudenken. Dann wird aus KI nicht nur ein Tool, sondern ein echter Kulturimpuls..
Interviewer: Unsere Studie „Generative KI in der deutschen Wirtschaft 2025“ zeigt, dass 91 Prozent der Unternehmen die Technologie als wichtig für ihr Geschäftsmodell einschätzen, 69 Prozent bereits eine KI-Strategie haben und über 70 Prozent zusätzliche Investitionen planen. Gleichzeitig verfügen aber nur 26 Prozent über eine unternehmensweite Trusted-AI-Strategie. Eine Leitlinie also, die sicherstellt, dass künstliche Intelligenz nicht nur technisch funktioniert, sondern auch ethisch, rechtlich und organisatorisch verantwortungsvoll eingesetzt wird. Was heißt das für die Praxis?
Andreas Kopp: Diese Zahlen zeigen eine klare Dynamik, aber auch eine Kluft. Viele Unternehmen formulieren eine Strategie, die allerdings fragmentiert bleibt. Eine unternehmensweite Trusted-AI-Strategie bedeutet, dass nicht nur einzelne Abteilungen, sondern die gesamte Organisation auf gemeinsame Leitplanken baut. Wer das verpasst, läuft Gefahr, dass Projekte nicht skalieren.
Interviewer: Welche Handlungsempfehlungen geben Sie Führungskräften mit, die ihre KI-Initiativen erfolgreich gestalten wollen?
Andreas Kopp: Entscheidend ist zunächst, dass Unternehmen ihre Ziele klar benennen. Es reicht nicht, „etwas mit KI“ machen zu wollen. Es braucht ein konkretes Geschäftsproblem, das sich durch den Einsatz künstlicher Intelligenz besser lösen lässt als mit bisherigen Methoden. Ein zweiter Punkt betrifft die Datenbasis, man kann es nicht oft genug sagen. Viele Projekte scheitern nicht an der Modellierung, sondern daran, dass Datenqualität, Zugänglichkeit und Integration unzureichend sind. Wer hier frühzeitig investiert, schafft die Grundlage für belastbare Ergebnisse. Ebenso wichtig ist der Aufbau interdisziplinärer Teams. KI entfaltet ihren Nutzen nur dann, wenn Technologie, Fachbereiche und Change-Kompetenz von Beginn an zusammenspielen. Und schließlich sollten Unternehmen klein starten, aber groß denken. Pilotprojekte sind sinnvoll, solange sie von Anfang an auf Skalierung ausgerichtet sind – also Infrastruktur, Machine Learning Operations und Übergänge in den Regelbetrieb berücksichtigen.
Prof. Dr. Heiko von der Gracht: Ich möchte ergänzen: Realistische Erwartungen sind entscheidend. KI ist kein Wundermittel, sondern ein Werkzeug, das mit der Zeit reift. Wer zu viel verspricht, erzeugt Enttäuschung – wer zu früh aufgibt, verpasst Chancen. Man hört häufig, dass jedes zweite Unternehmen seine KI-Ziele nach der Pilotphase anpassen muss – oft, weil der Aufwand für Datenintegration und Change unterschätzt wird. Erfolg entsteht dort, wo Rückschläge als Lernschritte verstanden werden. Unternehmen, die Fehler zulassen und reflektieren, entwickeln langfristig die besseren Lösungen. Ich empfehle zudem, Szenarioanalysen gezielt einzusetzen: Damit lassen sich verschiedene Entwicklungspfade antizipieren und Investitionen so steuern, dass sie auch unter veränderten Rahmenbedingungen tragfähig bleiben.
Interviewer: Herr Professor von der Gracht, Sie sind Zukunftsforscher. Wohin entwickelt sich KI aus Ihrer Sicht?
Prof. Dr. Heiko von der Gracht: Wir erleben gerade, wie sich generative KI mit anderen Technologien verbindet. KI wird Teil ganzer Ökosysteme – von Cloud über Sensorik bis Robotik. Die nächste Stufe heißt Physical AI: intelligente Systeme, die nicht nur denken, sondern handeln. Die Geräte, die das ermöglichen, kommen jetzt auf den Markt – von smarten AR-Brillen und intelligenter Kleidung bis zu Wearables und Smartphones. Es entstehen ganze Device-Ecosystems direkt am Körper. Wir alle entwickeln damit eine Art digitale Aura: eine Schicht aus Daten, Kontext und Intelligenz, die uns ständig begleitet und unterstützt. Das eröffnet enorme Chancen – für Präzision, Komfort und neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Technologie. Bis Ende des Jahrzehnts wird KI nicht mehr nur sichtbar sein, sondern spürbar.
Interviewer: Was ist also das Fazit im Hinblick auf erfolgreiche KI-Projekte, das Sie Unternehmen mitgeben können?
Prof. Dr. Heiko von der Gracht: Im Zentrum steht der Mensch. KI entfaltet ihr Potenzial erst dann, wenn Mitarbeitende den Nutzen verstehen und die Technologie aktiv anwenden können. Führungskräfte sollten KI nicht als reines IT-Thema betrachten, sondern als kulturellen Wandel. Jetzt ist die Zeit, Kompetenzen aufzubauen, Routinen zu hinterfragen und Neues auszuprobieren. KI ist kein Selbstzweck – sie ist ein Werkzeug, um Zukunft zu gestalten.
Andreas Kopp: Ich sehe das genauso. Der Schlüssel liegt darin, frühzeitig zu investieren – in Datenqualität, in Qualifizierung und in Vertrauen. Unternehmen, die klein starten, aber groß denken, schaffen Skalierbarkeit. Wer heute Strukturen schafft, die Lernen, Verantwortung und Transparenz fördern, legt den Grundstein für nachhaltigen Erfolg.
Interviewer: Vielen Dank für das Gespräch.