Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte im September 2022 für Aufsehen gesorgt. Es hatte überraschend entschieden, dass Unternehmen zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeit aller Mitarbeitenden verpflichtet sind. Anfangs war nur eine Pressemitteilung bekannt, nun hat das Bundearbeitsgericht die Entscheidungsgründe veröffentlicht.
Hintergrund der BAG-Entscheidung ist das sog. Stechuhr-Urteil des EuGH aus dem Jahr 2019. Der EuGH hatte den nationalen Gesetzgebern aufgegeben, die Arbeitgeber zur Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Zeiterfassungssystems zu verpflichten. Seitdem warten deutsche Arbeitgeber auf die Gesetzesänderung – bislang vergeblich. Stattdessen war nun unerwartet das BAG tätig geworden. Es hat die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung einfach in ein bereits seit Langem geltendes Gesetz, nämlich das Arbeitsschutzgesetz, hineingelesen.
Was bedeutet der Beschluss des BAG im Einzelnen für Unternehmen? Das sind die Fakten:
Beginn und Ende der Arbeitszeit müssen aufgezeichnet werden
Nicht nur die Dauer, sondern auch Beginn und Ende der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden müssen nach dem BAG aufgezeichnet werden. Es reicht nicht, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigten ein dafür geeignetes System zur freigestellten Nutzung zur Verfügung stellt, sondern er muss dafür Sorge tragen, dass das System auch tatsächlich genutzt wird. Offengelassen hat das Gericht, was alles zur Arbeitszeit zählt, ob z. B. ein Geschäftsessen aufgezeichnet werden muss, wie Reisezeiten behandelt werden oder wie der gelegentliche Blick auf die E-Mails zu bewerten ist. Im Zweifel sollten daher zunächst alle Zeiten dokumentiert werden.
Die Zeiterfassung muss nicht elektronisch erfolgen und kann delegiert werden
Unternehmen können frei entscheiden, in welcher Form die Zeit erfasst wird. Sie dürfen die Besonderheiten der Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer:innen und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – berücksichtigen. Das Gericht stellt klar: Die Arbeitszeiterfassung muss nicht zwingend elektronisch erfolgen. Aufzeichnungen in Papierform genügen. Ebenso kann die Zeiterfassung an die Mitarbeitenden delegiert werden.
Bei der Ausgestaltung bestimmt der Betriebsrat mit
Der Betriebsrat hat gem. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei der Einführung und Ausgestaltung eines Systems mitzubestimmen. Er kann nicht erzwingen, dass das System elektronisch ist, jedoch erkennt das BAG ihm grundsätzlich ein Initiativrecht zu. Das bedeutet: Bleibt der Arbeitgeber untätig, könnte der Betriebsrat die Einigungsstelle anrufen. Auch bei der Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems ist der Betriebsrat zu beteiligen.
Die Pflicht gilt zunächst auch für leitende Angestellte
Obwohl die Regeln des Arbeitszeitgesetzes nicht für Arbeitszeiten von leitenden Angestellten gelten, müssen diese strenggenommen nach der jetzigen BAG-Entscheidung auch an der Arbeitszeiterfassung teilnehmen. Denn das BAG stützt die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nicht auf das Arbeitszeit-, sondern auf das Arbeitsschutzgesetz. Und dieses gilt auch für leitende Angestellte. Lediglich das Mitspracherecht des Betriebsrats entfällt bei leitenden Angestellten. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass der Gesetzgeber leitende Angestellte künftig von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausnehmen wird. Bis dahin muss davon ausgegangen werden, dass auch leitende Angestellte ihre Arbeitszeiten erfassen müssen.
Es drohen keine Bußgelder
Eine gute Nachricht: Unternehmen drohen zunächst keine Bußgelder, denn das Arbeitsschutzgesetz sieht im Gegensatz zum Arbeitszeitgesetz keine Sanktionen vor.
Auch bei der Vergütung von Überstunden geht ein fehlendes Zeiterfassungssystem nicht zu Lasten des Arbeitgebers. Das hatte das BAG im Mai 2022 entschieden, als es um die Frage ging, ob das o.g. Urteil des EuGH zu einer Umkehr der Beweislast führt.
Empfehlungen für die Praxis und Fazit
Unternehmen ist zu raten, die Änderung des Arbeitszeitgesetzes abzuwarten und nicht voreilig ein neues Arbeitszeiterfassungssystem anzuschaffen. Erst dann steht fest, wie die Erfassung ausgestaltet sein und wer daran teilnehmen muss. Dies sind jedoch wichtige Kriterien nicht nur bei der Auswahl eines Zeiterfassungstools, sondern vor allem auch bei den Vereinbarungen mit dem Betriebsrat. Bis das Gesetz geändert ist, kann die Erfassung der Arbeitszeit auch an Arbeitnehmer:innen delegiert und manuell durchgeführt werden.
Ein Lichtblick ist: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist nicht das Ende der Vertrauensarbeitszeit. Sowohl der EuGH als auch das BAG gestatten dem nationalen Gesetzgeber, Ausnahmen von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung zuzulassen. Die Ampel hat 2021 im Koalitionsvertrag ausdrücklich erklärt, dass trotz des EuGH-Urteils flexible Arbeitszeitmodelle und Vertrauensarbeitszeit weiterhin möglich bleiben sollen. Es ist zu hoffen, dass die Koalition ihr Wort hält und darüber nachdenkt, den Kreis derjenigen, die von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen sind, im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sinnvoll auszuweiten – etwa auf diejenigen, die das Dreifache der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV verdienen und damit im Zweifel als leitende Angestellte gelten.