ESG: Ein Ingenieur steht mit einem Laptop vor einem Windpark.

Interview: Warum ESG-Kennzahlen für den Public Sector unerlässlich sind

Nachhaltig erfolgreich: So gelingt die Transformation der öffentlichen Hand

Der Megatrend ESG verändert die Wirtschaft grundlegend. Diverse Nachhaltigkeitsaspekte sind aber nicht nur bei privaten Unternehmen ganz oben auf der Agenda. Auch der Public Sector wandelt sich – aus gleich mehreren Gründen. Im Whitepaper Ohne Daten keine Transformation zeigen unsere Experten die kritische Rolle von ESG-Kennzahlen für effiziente Klimaschutzstrategien der öffentlichen Hand auf. Markus Scherb und Frederik Schütz, beide Manager, Consulting, sprechen im Interview über den Status quo bei der öffentlichen Hand, die besonderen ESG-Treiber und die größten Hürden bei der Transformation.

Herr Scherb, Herr Schütz, kurz vorab: In den Leitmedien dominieren noch Automobil- oder Energiekonzerne die ESG-Schlagzeilen. Warum wird ESG auch – oder gerade – für den Public Sector immer relevanter?

Frederik Schütz: Aus gleich mehreren Gründen. Mit dem Klimaschutzgesetz verpflichtet sich Deutschland, bis 2045 treibhausgasneutral zu werden. Dieses klar definierte Zeil gibt sozusagen die Fahrtrichtung vor. Für Bundesministerien, Behörden, Länder und Kommunen hat das diverse Durchsetzungsinitiativen zur Folge, denn im föderalen System müssen alle Beteiligten in ihrem Wirkungskreis beitragen. Der öffentliche Sektor schafft hier Transparenz über die sektorspezifischen Betrachtungen von beispielsweise Treibhausgasemissionen. Er unterstützt die Umsetzung politischer Rahmenbedingungen. Ihm kommt somit eine zentrale Rolle beim Thema ESG zu.

Markus Scherb: Hinzu kommen im öffentlichen Sektor zudem besondere Treiber: Fördergelder werden beispielsweise an ESG-Kriterien gekoppelt – und bei Ausschreibungen werden ESG-Kriterien von Lieferanten einbezogen.

Die öffentliche Hand hat angesichts ihrer hohen Investitionssummen erheblichen Gestaltungsspielraum, heißt es häufig. Sie habe eine Lenkungs- und Vorreiterrolle. Hat sie die beim Thema ESG auch?

Frederik Schütz: Ja und nein. Klar ist: Es gibt die Chance, die Vorreiterrolle einzunehmen – und manche Städte und Gemeinden nehmen sie bereits wahr, indem sie sich über Nachhaltigkeit definieren und auf diese Weise Bürger:innen und Unternehmen anlocken. Freiburg im Breisgau macht das beispielsweise ganzheitlich sehr erfolgreich. Dort gibt es unter anderem bereits konkrete Klimaziele.

Konkrete Zahlen sind künftig unerlässlich, mahnen Sie mit Nachdruck – ob für die Maßnahmenplanung, das Controlling im laufenden Projekt oder die Erfolgsmessung danach. Heißt das im Umkehrschluss, dass Nachhaltigkeitsentscheidungen im Public Sector bislang auf subjektiven Einschätzungen fußten?

Markus Scherb: Es wird viel mit Annahmen, Vereinfachungen und Schätzungen gearbeitet. Es ist eine große Herausforderung für die Verantwortlichen, dass die Datenverarbeitung aktuell vielerorts noch sehr papiergetrieben ist oder mögliche Datenquellen erst evaluiert werden müssen. Die Prozesse sind daher zeit- und ressourcenintensiv sowie fehleranfällig. Das sind Nachteile, die sich in der Praxis unmittelbar bemerkbar machen. Der Aufbau einer datengetriebenen Systemarchitektur sorgt dafür, dass die Daten zuverlässiger, schneller und effizienter erhoben und verarbeitet werden können.

Das hört sich nach Nachholbedarf an. Können Sie umreißen, wo der Public Sector derzeit insgesamt steht? Welche Erfahrungen machen Sie in der Praxis?

Markus Scherb: Man stellt fest, dass fast alle Akteure noch am Anfang ihrer Reise stehen. Manch einer hat schon erste Schritte gemacht: Es werden auf breiter Front Mails verschickt, um Daten einzuholen, Exceltabellen auszufüllen, Zahlen zu aggregieren. Dabei sind die Sicherstellung der Datenqualität sowie die termingerechte Erstellung sowie Lieferung der Daten die wesentlichen Herausforderungen. Ebenfalls höchst relevant ist die Integration in die Gesamtorganisation – in Prozesse, in IT-Lösungen, in das generelle Bewusstsein für ESG im Unternehmen. Die Betroffenen merken zu Beginn der Reise den enormen Aufwand. Dabei sollte man allerdings erwähnen, dass sich die Lage im Public Sector von der Lage in vielen Unternehmen nicht sonderlich unterscheidet. Es ist kein Problem, das die öffentliche Hand exklusiv hat.

Woran hapert es derzeit noch besonders?

Markus Scherb: Es geht mit dem Mindset los: Oftmals fehlt bei Verantwortlichen noch das Bewusstsein dafür, welche Investitionen zunächst in Know-how und Manpower notwendig sind, ehe die Finanzierung von IT im Verarbeitungs- und Reportingprozess in den Fokus rückt. Ausmaße der Neuerungen werden häufig noch unterschätzt. Die Neuerungen betreffen alle Unternehmensbereiche. Oftmals wird der ESG-Abteilung bei der Versorgung mit Daten und Informationen ein zu geringer Stellenwert beigemessen.

Frederik Schütz: Wie im Financial Controlling aktuell bereits wird es im Bereich ESG perspektivisch umfangreiche Prozesse und IT-Systeme geben. Dabei geht es nicht nur darum, die ESG-relevanten Daten zu sammeln und Transparenz über die aktuelle Performance zu schaffen, sondern zukünftig auch darum, ESG als Steuerungsinstrument zu etablieren. Es werden auf Basis transparenter Daten Ziele definiert und Maßnahmen abgeleitet, die es unterjährig zu prüfen gilt, um die ESG-Performance stetig zu verbessern und zu steuern – so wie man es vom Financial Controlling schon heute kennt.

Die Kernfrage hinsichtlich der ESG-Kennzahlen ist also: „Wie und wo fangen wir überhaupt an?“

Frederik Schütz: Ja. Denn dass angefangen werden muss, ist mittlerweile klar. Über Jahrzehnte gab es Freiwilligkeit beim Thema Nachhaltigkeit, so dass eher Marketinggründe für das Ausweisen von eigenen Nachhaltigkeitskennzahlen im Vordergrund standen. Man konnte, aber man musste nicht. Jetzt ist es gesetzlich geregelt.

Markus Scherb: Genau. Und bei der Frage „Wie und wo fange ich an“ geht es im ersten Schritt zunächst mal ganz grundsätzlich um das Herausarbeiten des Status quo und der Zieldefinition. Denn wir merken, dass es ganz unterschiedliche Ambitionsniveaus gibt. Manche Kunden möchten einfach möglichst schnell und „schlank“ compliant werden, ohne geplante „Extrameile“. Andere sehen ESG als ganzheitlichen Auftrag. Da gilt es, die Intentionen detailliert zu eruieren. Weiter geht es dann mit dem Erstellen eines Zielbilds, eines Maßnahmenkatalogs sowie eines Konzepts – fachlich und technisch. Im dritten Schritt steht die Implementierung an, wobei soweit möglich bestehende Systeme und Lösungen genutzt und erweitert werden. Denn bis heute gibt es kein ESG-Tool, das alle Aspekte der technischen und fachlichen Anforderung abdeckt. Vielmehr geht es oft um die intelligente Kombination von verschiedenen, teilweise auch bereits vorhandenen Systemen, um schlank und effizient das Ziel mit dem definierten Ambitionsniveau zu erreichen.

Das wirkt insgesamt wie eine höchst anspruchsvolle, umfangreiche Aufgabe mit diversen Verästelungen. Ist das nur der erste Eindruck?

Frederik Schütz: Es ist jedenfalls nicht ungewöhnlich, dass Betroffene angesichts der Komplexität bei Datenerhebung und -analyse sinngemäß vor einer großen Wand stehen. Das liegt nicht zuletzt an Public-Sector-spezifischen Eigenheiten bei der vielschichtigen und längerfristig angelegten Ressourcen- und Budgetplanung. Umso wichtiger ist es, Aufgaben und Arbeitsschritte zu portionieren und Etappenziele sichtbar zu machen. Genau dieses Prozedere erarbeiten wir mit unseren Kunden: Wir bewältigen die komplexen und umfangreichen Aufgaben sukzessiv gemeinsam.