Ein erleuchteter Pfad zieht sich an der Küste Richtung Horizont.

Warum Unternehmen ESG als Chance begreifen sollten

„ESGeht nur gemeinsam“: Goran Mazar, Partner und EMA & German Head of ESG, im Interview.

Ob EU-Kommission, NGOs, Unternehmen oder Verbraucher: Nachhaltigkeit steht bei allen ganz oben auf der Agenda. Umwelt, Soziales und verantwortungsvolle Führung – kurz: ESG – verändern Wirtschaft und Gesellschaft.

Was heißt das eigentlich genau? Und wo stehen wir aktuell im Transformationsprozess?

Goran Mazar, Partner und EMA & German Head of ESG and Automotive bei KPMG, spricht im Interview über den Status quo, über Chancen sowie Herausforderungen – und er richtet einen eindringlichen Appell an Deutschland und Europa.

Herr Mazar, ganz kurz und direkt vorab: Wenn mich ESG-Themen privat nicht interessieren würden – warum sollte ich sie als Führungskraft eines Unternehmens trotzdem unbedingt auf dem Schirm haben?

Goran Mazar: Zunächst einmal weil ESG alle Stakeholder betrifft. Und deren Erwartungshaltungen steigen. Regulatoren fordern Transparenz. Geldgeber investieren anhand messbarer ESG-KPIs. NGOs, Aktivisten und Journalisten demaskieren wiederum diejenigen Unternehmen, die ESG nicht ernst nehmen oder gar „Greenwashing“ betreiben. Mitarbeiter achten auf Werte, Prinzipien und Reputation, Unternehmensethik wird zum Faktor im Recruiting. Und Verbraucher belohnen zunehmend sozial und ökologisch verantwortungsvolles Handeln. Man sollte zudem für den Anstieg operativer Risiken gewappnet sein: Wasserknappheit sorgte im Sommer 2022 beispielsweise dafür, dass Chemie- und Pharmaunternehmen teils nicht produzieren konnten, weil Material über Flüsse nicht angeliefert werden konnte. In Nordeuropa mussten wegen Elektrizitätsmangel jüngst Autobatteriefabriken geschlossen werden. Das gefährdet die Wertschöpfungskette. Präventives Handeln hilft.

Dabei galt ESG über einen längeren Zeitraum eher als Marketing-Spielerei, oder?

Ja, es ging uneinheitlich um grüne Nachhaltigkeitsberichte. Dann hat der Gesetzgeber gesagt: Wir brauchen Qualitätsstandards, um Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) der EU soll nun dafür sorgen, dass die sogenannte nichtfinanzielle mit der finanziellen Berichterstattung gleichgestellt werden. Der Druck auf Entscheidungsträger wächst.

Was sind weitere relevante Entwicklungen in der jüngeren Vergangenheit?

Die US-Regierung treibt mit dem verabschiedeten Inflation Reduction Act (IRA) die dortige Wirtschaftstransformation mit viel Geld voran. Das Ziel: weg von fossilen Brennstoffen, hin zu grünen Technologien. Genau wie durch die EU-Regulatorik oder den EU Green Deal werden Kapitalströme umgelenkt. Der IRA ist eine riesige Subventionsinitiative. Schaffen wir es, nachdem wir das Thema Digitalisierung verschlafen haben, diesmal an der Spitze zu bleiben? Das ist noch unklar.

Haben wir denn überhaupt die Voraussetzungen dafür?

Ja. Das ist das Gute. Wir haben in Deutschland und Europa unter anderem durch das Maschinenbau-Know-how, durch Forschung und Entwicklung und durch breitgefächerte Industriekompetenz eine starke Basis. Aber die Zeit drängt. Wir müssen richtig Gas geben.

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie weit sind wir beim Wandel in eine nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft aktuell schon?

Ich würde sagen, dass wir bei einer 4 sind. Es wurde schon viel Positives angestoßen, und beim deutschen Strommix lagen die Erneuerbaren Energien im Vorjahr bereits bei rund 50 Prozent. Einstellungen und Prinzipien von Verbrauchern haben sich ebenfalls schon gewandelt. Wenn wir uns allerdings bei Industrieprozessen von Gas und Öl lösen wollen, haben wir noch viel vor uns, von der Elektrifizierung bis zum Einsatz von Wasserstofftechnologie.

Wir stehen also vor einer Mammutaufgabe. Wie Compliance künftig exakt aussehen wird, steht indes noch nicht fest. Sollten Unternehmen jetzt zunächst abwarten?

Klar ist: Viele Menschen bleiben gerne in ihrer Komfortzone, sie wollen nicht gedrängt werden. Bedeutende Umbrüche in der Wirtschaft werden von nicht wenigen unmittelbar Beteiligten zunächst einmal abgelehnt. Die Einführung des Katalysators sorgte zunächst auch für einen Aufschrei. Es gibt eine gewisse Notwendigkeit zur Regulierung, zur Schaffung neuer Pflichten, sonst geht das Umschwenken nicht schnell genug. Aber: Es gibt derzeit ein großes Eigeninteresse für jeden Einzelnen, für Unternehmen, für die Gesellschaft, die Veränderung voranzutreiben. Denn exponentielle Kurven, etwa beim Klimawandel, sorgen für Gefahren.

Das heißt im Umkehrschluss: Je früher, grundlegender und weitsichtiger ich agiere, desto erfolgsträchtiger – in vielerlei Hinsicht?

Man sollte sich fragen: Warte ich, bis der Regulator mich treibt? Oder sehe ich die Themen und Problemstellungen vorab schon als Chance, um „ahead of the curve“ zu bleiben? Letzteres hilft mir bei der Disruption, bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle – das ist also ein klarer Wettbewerbsvorteil.

Prognosen sind angesichts des volatilen ökonomischen und geopolitischen Umfelds schwer, aber wenn Sie die kommenden fünf Jahre umreißen müssten: Wo stehen wir 2028 – was ist Ihre Vision?

Mein wichtigster Wunsch ist, dass wir für jeden Wirtschaftssektor eine Lösung zur Dekarbonisierung gefunden haben. In fünf Jahren sollte die Lösung entweder schon zur Anwendung gekommen oder zumindest in Planung sein. Jede Industrie steht dahingehend vor unterschiedlichen Fragen und Antworten. Ich hoffe zudem, dass wir durch Transparenz im Bereich des Sozialen die Welt bereits ein Stück verbessern konnten – unter anderem dank nachhaltiger Produkte, dank fairer Bezahlung und dank Behebung des Fachkräftemangels durch Einwanderung.