Krankenschwester guckt mit älterer Frau auf Tablet im Wartezimmer

Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung

GKV braucht digitale Innovationen für bessere Versorgung – Interview mit der AOK NordWest.

Eine stabile Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist entscheidend, um sicherzustellen, dass alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrem Einkommen Zugang zu hochwertiger medizinischer Versorgung haben.

Im Gespräch mit Tom Ackermann, Vorstandsvorsitzender der AOK NordWest, eine der größten gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, und Torsten Müller, Partner, Consulting Healthcare, und Thorsten Helm, Partner, Tax Healthcare, wird deutlich, wie unterfinanziert die GKV ist und warum eine verstärkte Implementierung digitaler Prozesse erforderlich ist, um die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu gewährleisten.

Torsten Müller: Herr Ackermann, wie hat sich die Finanzierungssituation im Gesundheitswesen in den letzten 10 Jahren entwickelt und wie bewerten Sie den heutigen Stand?

Tom Ackermann: Es gibt immer Zyklen in dieser Entwicklung. Es gab in den 2000er Jahren finanzielle Probleme in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), besonders bei den AOKs. Sie konnten Kredite aufnehmen, was zu Verschuldung führte. 2009 wurde der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eingeführt, der die AOKs befähigte, eigenständig mit wettbewerblichen Beitragssätzen zu agieren.

In den folgenden Jahren profitierte die Sozialversicherung von wirtschaftlichem Aufschwung und stabilen politischen Rahmenbedingungen. Hohe Beschäftigungsquoten führten zu hohen Beitragseinnahmen und stabilen Zusatzbeiträgen. Doch seit dem Ende der Ära Spahn hat sich die Perspektive verschoben: Die Ausgaben steigen stärker als die Einnahmen, obwohl die Wirtschaft noch stabil ist.

Die Finanzreserven sind aufgebraucht und die Spielräume werden enger. Einige Forderungen der GKV wurden nicht umgesetzt, was die finanzielle Lage weiter belastet. Wir sind daher froh, dass die AOK NordWest mit einem stabilen Zusatzbeitrag von 1,89 Prozent in das neue Jahr gehen kann. Aber das GKV-System geht sicherlich auf kritische wie finanziell angespannte Jahre zu, da sich die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen, die sogenannte strukturelle Lücke, weiter öffnet.

Thorsten Helm: Wie wirken sich die geplanten legislativen Reformen, wie beispielsweise die Neu-Evaluierung des Morbi-RSA oder die Krankenhausreform, auf die Finanzierung im Gesundheitswesen aus?

Tom Ackermann: Es gibt aus meiner Sicht zwei wesentliche externe Einflussfaktoren. Der eine ist, dass wir uns unter dem Primat anderer politischer Schwerpunkte neu sortieren müssen. Wir haben eine allgemeine Situation von Wirtschaftsschwäche und Inflation, Kriege in Europa und der Welt sowie den Klimawandel. Dadurch sind die ersten drei Plätze in den politischen und gesellschaftlichen Debatten vergeben. Gesundheitspolitische Diskussionen und Entscheidungen für die GKV und Sozialversicherungen rangieren bestenfalls auf Platz vier. Nichtsdestoweniger gibt es weiterhin dringenden Handlungsbedarf bei der Versorgung – angesprochen sind hier sowohl inhaltliche Versorgungsaspekte als auch Fragen der fairen Refinanzierung.

Zu dem bereits genannten Aspekt der Beiträge für die Bürgergeldbeziehenden steht auch die Dynamisierung der Bundesbeteiligung an der Finanzierung von versicherungsfremden Leistungen im Koalitionsvertrag, ist bisher aber nicht umgesetzt. Wir gehen davon aus, dass der GKV strukturell etwa 10 Milliarden Euro jährlich fehlen. Das sind rund 0,5 Beitragszehntel, die gegenwärtig für Versorgungsprozesse fehlen beziehungsweise zulasten der Zusatzbeiträge gehen. Eine gesetzliche Änderung wird in dieser Legislatur nach meiner Einschätzung aber nicht mehr stattfinden. Damit bleibt es bei den notwendigen Reformen der inhaltlichen Versorgungsaspekte.

Der zweite und größte externe Einflussfaktor ist der Fachkräftemangel. Der Druck in allen Bereichen des Versorgungssystems ist bereits so massiv gestiegen, dass die Politik nicht mehr ausweichen kann. Dieses Thema lässt sich nicht mit mehr Geld lösen, hier braucht es strukturelle Überlegungen zur Verbesserung der inter- und intrasektoralen Zusammenarbeit. Wenn man zudem schaut, wie gegenwärtig beim Krankenhaustransparenzgesetz oder auch der Krankenhausreform taktiert wird, fällt auf, dass die Länder auf der einen Seite Forderungen im Bereich der Daseinsvorsorge und Krankenhausplanung stellen, auf der anderen Seite aber ihrer Verantwortung seit etwa 30 Jahren nicht gerecht werden. Sie machen weder eine substanzielle Krankenhausplanung für bessere Qualität und Versorgung, noch kommen sie ihrem Primat der Investitionskostendeckung nach. Läge die Deckungsquote beim Investitionsbedarf nicht jedes Jahr bei lediglich 50 bis 60 Prozent, gäbe es jetzt die Diskussion rund um die DRGs und die Vorhaltefinanzierung nicht in dieser Dimension. Ich bin eher skeptisch, ob die Krankenhausreform in ihrer jetzig diskutierten Struktur als geeintes Bund-Länder-Paket noch kommt.

Bei der kommenden Neu-Evaluierung des Morbi-RSA geht es um die Prüfung der Zielgenauigkeit der Mittelverteilung aus dem Gesundheitsfonds auf die einzelnen Krankenkassen, vor dem Hintergrund, dass die Versichertenkollektive und Risiken unterschiedlich ausgeprägt sind. Das aktuelle Ausgleichsverfahren setzt immer noch falsche Anreize, es gibt zu viel Geld für gesunde Versicherte und im Gegenzug sind vulnerable Gruppen (Pflegebedürftige, Bezieher von Transfereinkommen und Härtefälle), die in der GKV deutlich unterschiedlich verteilt sind, in der Finanzierung nicht gedeckt. Diese Fragestellung sollte über eine noch zu schaffende Datengrundlage durch den wissenschaftlichen Beirat beurteilt werden.

Torsten Müller: Durch den Fachkräftemangel und die Digitalisierungsgesetze im Gesundheitswesen werden zukünftig schlankere Verwaltungsstrukturen benötigt. Inwiefern erwarten Sie auch in Ihrer Krankenkasse Änderungen in den Verwaltungsstrukturen? Welchen Effekt erhoffen Sie sich gegebenenfalls durch stärkere Prozessautomatisierung oder KI?

Tom Ackermann: Zum einen wird sich der zahlenmäßige Rückgang der gesetzlichen Krankenkassen fortsetzen. Die Verwaltungskosten werden dadurch weiter sinken, wenngleich sich die GKV in Summe mit knapp fünf Prozent an den Gesamtaufwendungen hier nicht verstecken muss gegenüber anderen Branchen oder der PKV und es nicht die strukturelle Unterfinanzierung lösen wird.

Selbstverständlich haben Krankenkassen als mittelbare Staatsbetriebe eine ökonomische Eigenverantwortung und sind verpflichtet, ihre Aufgaben wirtschaftlich zu erfüllen. Zum anderen werden durch den Babyboomer-Effekt auch in der GKV in den nächsten fünf bis sieben Jahren viele Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand gehen. Diese Abgänge werden wir nach meiner Einschätzung durch Prozessoptimierung, Automatisierung sowie den Einsatz von KI-Technologien in größeren Umfängen kompensieren können. Hier liegt ein wesentlicher Hebel für die Verschlankung der Verwaltungsstrukturen und den ökonomischeren Einsatz der Ressourcen.

Wir haben als AOK NordWest, aber auch im AOK-Verbund in den vergangenen Jahren viele Prozesse automatisiert und am Markt etabliert. Wenn man uns mit anderen Dienstleistungsbereichen und Strukturen des öffentlichen Dienstes vergleicht, dann haben wir in der GKV schon viele Hausaufgaben erledigt. Im Pflichtenheft der Krankenkassen stehen zum Beispiel schon seit Jahren Ausbau und Online-Bereitstellung von Use Cases für die Versicherten. So stellen wir über unser Online-Portal und die Meine-AOK-App bereits viele Services zur Verfügung, die den AOK- Mitglieder:innen den Kontakt zu ihrer Krankenkasse erleichtern, zum Beispiel die voll automatisierte Erstattung bei professioneller Zahnreinigung. Und hier wird noch eine Menge mehr kommen. Auf der Ebene der Sachbearbeitungen, also Genehmigungen, Prüfungen und Abrechnungen, wollen wir in den nächsten Jahren noch einiges automatisieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Gesundheitsbarometer mit dem Schwerpunktthema „Private Equity und Finanzierung“

Das gesamte Interview finden Sie im Gesundheitsbarometer. In der Ausgabe diskutieren Healthcare-Expert:innen die Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens. Hier herunterladen.