ESG: Auf einem Fließband laufen rote Tomaten - ein Arbeiter in Latexhandschuhen inspiziert eine Tomate.

Nachhaltig erzeugte Lebensmittel und Kartellrecht

Neue Chancen für Nachhaltigkeitsinitiativen in Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung

Nachhaltigkeit ist einer der Megatrends. Die Gesellschaft und ihr folgend der Gesetzgeber fordern verstärkt nachhaltiges Handeln von den Unternehmen. Verbraucherinnen und Verbraucher wünschen sich nachhaltig erzeugte Produkte und Transparenz über die Herstellung.

Erst recht gilt diese Entwicklung für Lebensmittel: Gerade von den Erzeugern und Unternehmen der Lebensmittelindustrie insgesamt wird gesetzlich, politisch und gesellschaftlich erwartet, dass sie ihren Geschäftsbetrieb so nachhaltig und „grün“ wie möglich gestalten. Besonders groß sind die Erwartung und das Bedürfnis nach nachhaltig produzierten Lebensmitteln bei den Konsument:innen.

Wirksame Nachhaltigkeitsstrategien am besten branchenweit

Dadurch haben Nachhaltigkeitsstrategien für Erzeuger aus der Landwirtschaft und Marktteilnehmer der sich anschließenden Lebensmittelversorgungskette besondere Relevanz. Das Verfolgen von Nachhaltigkeitszielen kann von den Marktteilnehmern allerdings erhebliche Investitionen erfordern.

Um „grüne“ Standards zu etablieren und effizient zu verfolgen, bedarf es bestenfalls einer Branchenlösung. Zur Realisierung von Nachhaltigkeitsinitiativen sind oftmals Kooperationen mit anderen Marktteilnehmern der Branche praktikabel.

Initiativen zu Nachhaltigkeit sind kartellrechtlich relevant

Doch auch Nachhaltigkeitskooperationen unterliegen dem geltenden Kartellrecht. Selbst wenn solche Initiativen gesellschaftlich erwünschte Themen behandeln, können sie als wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen unter das Kartellverbot (Art. 101 Abs. 1 AEUV§ 1 GWB) fallen, denn sie betreffen regelmäßig auch marktrelevantes Verhalten. In Deutschland wird die Einhaltung des geltenden Kartellrechts in erster Linie durch das Bundeskartellamt überwacht.

Allerdings gilt grundsätzlich das Prinzip der Selbsteinschätzung. Das heißt, die Unternehmen müssen selbst bewerten, ob ihr Verhalten kartellrechtlich zulässig ist oder nicht. Entsprechend liegt es in ihrer Verantwortung, Nachhaltigkeitskooperationen so auszugestalten, dass sie nicht gegen Kartellrecht verstoßen. Anderenfalls drohen unter anderem hohe Bußgelder und Schadensersatzrisiken sowie die Nichtigkeit der zugrunde liegenden Vereinbarungen.

EU-Recht macht im Bereich Landwirtschaft eine Ausnahme

Wie wir kürzlich schon in unserem Klardenker-Beitrag „Wird Kartellrecht grüner?“ angesprochen haben, rücken Nachhaltigkeitskriterien und -ziele (im weiteren Sinne ESG-Aspekte) auch im Kartellrecht zunehmend in den Fokus.

Speziell für Produkte aus der Landwirtschaft hat die Europäische Union inzwischen eine Regelung getroffen. Der europäische Gesetzgeber hat die Verordnung Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse (gemeinsame Marktorganisation, „GMO“) um Art. 210a erweitert, der am 7. Dezember 2021 in Kraft trat. Er enthält für bestimmte Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Lebensmittelversorgungskette eine Ausnahme vom Kartellverbot.

Damit schafft Art. 210a GMO einen größeren Handlungsspielraum für landwirtschaftliche Erzeuger und Marktteilnehmer auf verschiedenen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Handels der Lebensmittelversorgungskette, einschließlich des Vertriebs.

Standard muss weiter gehen als Rechtsvorgaben

Das Kartellverbot findet dann keine Anwendung, wenn es um eine Vereinbarung geht, die das Ziel hat, im Bereich der Landwirtschaft und Lebensmittelkette übergesetzliche Nachhaltigkeitsstandards anzuwenden, und wenn diese Initiative entlang der Voraussetzungen des Art. 210a GMO ausgestaltet ist – konkret: wenn die Vereinbarungen einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anwenden, als es durch das Unions- oder nationale Recht vorgeschrieben ist.

Nachhaltigkeitsstandards im Sinne des Art. 210a GMO sind Standards, die mindestens eines der folgenden Ziele verfolgen: Umweltziele, Verringerung des Einsatzes von Pestiziden in der landwirtschaftlichen Erzeugung, Tiergesundheit und Tierwohl.

Ausnahmeregelung gilt für horizontale wie vertikale Initiativen

Eine weitere Besonderheit: Die in Art. 210a GMO normierte Ausnahme vom Kartellverbot gilt gleichermaßen horizontal wie vertikal – also sowohl für Vereinbarungen zwischen Erzeugern landwirtschaftlicher Produkte als auch für Vereinbarungen zwischen einem oder mehreren Erzeugern und Marktteilnehmern auf anderen Stufen entlang der gesamten Erzeugungs- und Lieferkette („Branchenlösung“).

Damit hat der europäische Gesetzgeber auf die Entwicklungen für mehr Nachhaltigkeit reagiert und erstmals eine branchenspezifische Ausnahme vom Kartellverbot auf Basis von Nachhaltigkeitskriterien normiert. Als EU-Verordnung findet die Regelung seit Inkrafttreten unmittelbare Anwendung in allen EU-Mitgliedstaaten – es bedarf keiner nationalen Umsetzung.

Mehr Rechtssicherheit für Unternehmen des Sektors

Marktteilnehmer im Bereich der landwirtschaftlichen Erzeugung und anschließenden Lebensmittelversorgungskette haben nun die Möglichkeit, gemeinsam neue Chancen im Bereich Nachhaltigkeit wahrzunehmen. Dabei haben sie allerdings dafür Sorge zu tragen, dass ihre Initiativen die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllen.

Auch hier gilt das oben beschriebene Prinzip der Selbsteinschätzung: Für eine Nachhaltigkeitsinitiative bedarf es in aller Regel keines vorherigen „Go‘s“ der zuständigen Kartellbehörde, sondern die Marktteilnehmer bewerten selbst, ob ihr Vorhaben kartellrechtskonform ist. Dieses Prinzip ist naturgemäß mit einer gewissen Rechtsunsicherheit verbunden. Daher sollte die Ausgestaltung und Umsetzung derartiger Kooperationen stets mit kartellrechtlicher Expertise verbunden werden. Zu begrüßen ist, dass gemäß Art. 210a Abs. 5 GMO die Europäische Kommission bis Dezember 2023 Leitlinien für Marktteilnehmer zur Anwendung von Art. 210a GMO veröffentlichen wird.

Auf Basis der EU-Verordnung können entsprechende Initiativen mit größerer Rechtssicherheit kartellrechtskonform ausgestaltet werden. Die gesamte Branche sowie Verbraucherinnen und Verbraucher können davon profitieren.

Jacqueline Unkelbach