Wie schätzen deutsche Unternehmen ihre Wachstumsaussichten am Wirtschaftsstandort Indien ein? Was sind die größten Chancen und Risiken? Und womit punktet Indien in Zeiten des Decouplings beziehungsweise Deriskings gegen China? Antworten gibt der German Indian Business Outlook 2023, den wir gemeinsam mit der Deutsch-Indischen Handelskammer (AHK) erstellt haben.
Andreas Glunz, Bereichsvorstand International Business bei KPMG in Deutschland, erklärt im Interview, was die deutsche Wirtschaft aus den Ergebnissen schlussfolgern kann – und welcher „Game Changer“ demnächst einen nachhaltigen Aufschwung der deutsch-indischen Beziehungen weiter befeuern könnte.
Herr Glunz, der German Indian Business Outlook ist da. Kompakt vorab: Was sind die Kernerkenntnisse der umfassenden Befragung?
Wir sehen eine massive wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie: 71 Prozent der deutschen Unternehmen erwarten steigende Umsätze in Indien für das laufende Geschäftsjahr, 48 Prozent erwarten steigende Gewinne. Die Relevanz des Sub-Kontinents nimmt für deutsche Unternehmen den Befragten zufolge deutlich zu und die Regionalisierung schreitet vor Ort voran: Die Produktion in Indien für den lokalen Markt steigt bis 2028 viel stärker als für den Export.
Außerdem erleben wir eine Rollenänderung des Standorts: Bis 2028 will jedes vierte deutsche Unternehmen Indien für Forschung und Entwicklung nutzen. Das ist ein überraschendes Ergebnis.
Was sind denn die relevantesten Standortfaktoren, die solch positiven Resultaten zugrunde liegen?
62 Prozent der Befragten schätzen die politische Stabilität im Land. Das ist der höchste Wert. Die Verfügbarkeit von Fachkräften ist ebenfalls von wesentlicher Bedeutung. Die Löhne steigen zwar, aber im Vergleich zu den Löhnen in China, Europa oder Nordamerika sind sie immer noch gering. Auch das ist ein Faktor, der Indien attraktiv macht.
In politischen Decoupling- und Derisking-Debatten geht es häufig um Vergleiche zwischen Indien und China. Welche Schlussfolgerungen kann man diesbezüglich aus dem German Indian Business Outlook ziehen?
Die politische Bedeutung Indiens hat für den Westen insgesamt deutlich zugenommen, da China kritischer gesehen wird. Ursächlich hierfür ist insbesondere die wahrgenommene Abhängigkeit von China als Lieferant und Absatzmarkt verbunden mit dem Droh-Szenario eines militärischen Einmarsches Chinas in Taiwan.
Zuletzt hat die deutsche Außenministerin gar eine „Wertepartnerschaft“ mit Indien betont. Da die deutsche Politik immer mehr Einfluss auf die Wirtschaft nimmt und politisch ungewünschtes Verhalten reglementiert, richtet sich die Wirtschaft neu aus. Indien gerät mehr in den Fokus, da die Risikolage in Indien langfristig als weniger kritisch eingeschätzt wird als in China.
Heißt das, dass Indien China den Rang abläuft?
Indien und China sind für deutsche Unternehmen gleichermaßen interessant, aber aus unterschiedlichen Gründen und für unterschiedliche Zwecke. Insofern gibt es kein „Entweder-oder“, sondern nur ein „Sowohl-als-auch“.
Indien ist noch ein Entwicklungsland, das aufgrund seiner niedrigen Lohnkosten und der großen Zahl junger Arbeitskräfte ein präferierter Produktionsstandort für die Region und den Export in die ganze Welt darstellt. Zugleich ist Indien aber auch das Land mit der größten Anzahl hervorragend ausgebildeter und zugleich englischsprachiger IT-Expertinnen und Experten…
…, was gerade in Zeiten virtueller Arbeitswelten ein großer Vorteil ist.
Genau. Diese Fachkräfte können von Indien aus global tätig werden. Das ist der Grund für die mehr als 1.400 „Global Competence Center“ in Indien, die multinationalen Unternehmen in der ganzen Welt zuarbeiten. Deutsche Unternehmen – gerade aus dem Mittelstand – nutzen dieses Potential aber noch deutlich weniger als Unternehmen aus angelsächsischen Ländern.
Die Vielzahl jährlicher Studienabgänger in MINT-Studienfächern ist auch der Grund, warum deutsche Unternehmen Indien mehr und mehr für Forschung und Entwicklung nutzen. Ebenfalls wichtig zu wissen: Die Wirtschaftsaussichten Indiens – insbesondere die prognostizierten Wachstumsraten – sind mittel- bis langfristig besser als die Chinas. Grund hierfür ist die wachsende Bevölkerung in Indien, während sie in China abnimmt. Gerade erst hat Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelöst. Große Potentiale ergeben sich in Indien zudem aus den massiven Investitionen Indiens in die Infrastruktur.
Von einem Entwicklungsland kann man bei China indes nicht reden.
Nein, China ist ein hochentwickeltes Industrieland, das in Zukunftstechnologien wie Elektromobilität führend, innovativ und agil ist. Daher sind deutsche Unternehmen in China und streben aktuell wieder neue Joint Ventures an, um an den dynamischen Entwicklungen vor Ort teilzuhaben.
Auch bei den Zukunftsthemen Energiewandel und Klimaschutz streben deutsche Unternehmen mit chinesischen Partnern nach Lösungen. Zugleich ist China weiterhin ein riesiger Absatzmarkt mit einer großen, kaufkräftigen Mittelschicht und einer Vorliebe für deutsche Marken.
Ist denn das Fundament des wirtschaftlichen Engagements deutscher Unternehmen in Indien mit dem in China vergleichbar?
Der Umfang der Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in China ist mehr als fünfmal so hoch wie in Indien. Hier besteht also noch großes Aufholpotential. In China hat die deutsche Wirtschaft den Riesenvorteil, bereits massiv investiert und vernetzt zu sein. Sie muss dort nicht erst Fuß fassen. China weist zuletzt aber deutliche Anzeichen einer länger anhaltenden Wachstumsschwäche auf. Das liegt an diversen Faktoren, darunter die unbewältigte große Krise im Immobilienmarkt, die eingebrochene Binnennachfrage, der hohe Verschuldungsgrad, die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die Alterung der Gesellschaft und die gerade in China deutlich spürbaren Folgen der Erderwärmung.
Auch in Indien gibt es trotz des Optimismus erhebliche Herausforderungen. Wie schätzen das die befragten Unternehmen des German Indian Business Outlook ein?
Aktuell fühlt sich mit 53 Prozent mehr als jedes zweite deutsche Unternehmen durch Bürokratie und administrative Hürden in Indien beeinträchtigt. 47 Prozent bewerten Korruption als eines der drei größten Probleme, ein Anstieg um neun Prozentpunkte im Vergleich zur Vorjahresstudie. 31 Prozent der Befragten nennen zudem das regulatorische Umfeld als Herausforderung. Besorgniserregend ist, dass deutsche Unternehmen bis zum Jahr 2028 keine wesentlichen Verbesserungen erwarten.
Infrastrukturmängel stellen außerdem eines der größten Hemmnisse für die Wettbewerbsfähigkeit Indiens dar: Die Infrastruktur in den Bereichen Transport, Energie sowie Information und Kommunikation ist zumeist unzureichend für die Erfordernisse der Wirtschaft. Das beeinträchtigt die Lieferkette und erschwert den Transport von Waren.
Indien hat außerdem ein komplexes föderales Verwaltungssystem, das es bei der Gründung oder Expansion eines Unternehmens schwierig machen kann. Zudem belasten hohe Einfuhrzölle und nicht tarifäre Handelshemmnisse deutsche Unternehmen in Indien. Bei diesen Aspekten werden bis 2028 sogar Verschlechterungen erwartet.
Unterdessen könnte es aber zeitnah Rückenwind für die deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen geben: Auf einem geplanten Freihandels- und Investitionsschutzabkommen mit der EU liegen große Hoffnungen.
Das wäre ein „Game Changer“, wie Stefan Halusa sagt, der Hauptgeschäftsführer der AHK Indien. Allerdings: Aufgrund der anstehenden Wahlen in Indien und der EU im Jahr 2024 schließt sich das Fenster für ein solches Abkommen bereits Ende 2023.
Gibt es zusätzliche Aspekte, die Unternehmen unbedingt beachten sollten, die in Indien investieren möchten oder womöglich erstmals vor einer Expansion dorthin stehen?
Wichtig ist zunächst: Indien ist unglaublich vielfältig, in jeglicher Hinsicht. Ohne gründliche Recherche und Kenntnisse über die Lage vor Ort ist ein Markteintritt schwierig. Die vielfältige Kultur spiegelt sich beispielsweise in distinkten Geschäftspraktiken und Verhandlungsstilen wider. Die Normen sollte man kennen, respektieren und einhalten.
Das gleiche gilt für die rechtlichen Rahmenbedingungen, von lokalen Regularien, etwa hinsichtlich Lizenzen und Genehmigungen, bis zu Steuervorschriften. Durch die lokalen Differenzen ist auch lokale Marktforschung essenziell. Produkte, Marketingstrategien und Preisgestaltung sind entsprechend zu adjustieren.