Der Megatrend ESG prägt und transformiert die deutsche Wirtschaft. Beim „S“, also im Bereich des Sozialen, sind Unternehmen und Gesellschaft im weltweiten Vergleich schon führend, sagen die einen. Wir haben großen Nachholbedarf, sagen andere.
Was stimmt? Und was steckt im „S“ überhaupt alles drin? Sina Steidl-Küster, Regionalvorständin Südwest und Leiterin des Bereichs Innovation bei KPMG in Deutschland, spricht im Interview über den Status quo, die größten Herausforderungen – und besondere Praxis-Erfahrungen.
Frau Steidl-Küster, soziale Aspekte innerhalb des Megatrends ESG haben eine große Bandbreite. Sie reichen von Firmenbeziehungen zu Zulieferern bis zur Diversität in der Belegschaft. Wie gehen Unternehmen die große Herausforderung an?
Wir merken, dass interne Diskussionen zunehmen. Maßgeblicher Referenzwert für die betroffenen kapitalmarktorientierten Unternehmen ist bislang das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Beim Thema Diversität machen sich Unternehmen zwar Gedanken über die eigene Marktwahrnehmung, zudem fließen Aspekte auch ins Reporting ein. Aber viel weiter gehen die Debatten noch nicht.
Warum ist Diversität überhaupt so wichtig?
Unterschiedliche Perspektiven und unterschiedliche Herangehensweisen an Aufgaben- und Problemstellungen wirken sich positiv auf Unternehmenskultur- und erfolg aus. Je diverser die Belegschaft ist, desto vielfältiger sind die Denkarten – und desto weniger Potenzial bleibt unausgeschöpft. Bei der Diversität unter Mitarbeiter:innen geht es nicht nur um Geschlechter, also um den Frauenanteil, sondern gleichermaßen um soziokulturelle Hintergründe etlicher gesellschaftlicher Gruppen.
Was meinen Sie genau?
Besonders aktuell ist die Frage, wie wir beispielsweise Geflüchtete in den Arbeitsmarkt integrieren. Erwiesenermaßen sind derzeit fehlende Sprachkenntnisse ein großes Hindernis – der Ausbildungsstand ist ein geringeres Problem. Außerdem müssen wir uns um Beschäftigungsmodelle für diejenigen kümmern, die älter als 55 Jahre sind. Da sind angesichts des demographischen Wandels Gesetzes- und Arbeitsrechtsanpassungen nötig.
Immerhin: Eine Frauenquote existiert.
Auch die ermöglicht aber keinen tiefergehenden Überblick auf allen Unternehmensebenen. Häufig ist der Anteil an beschäftigten Frauen zwar insgesamt nicht niedrig – er nimmt aber massiv ab, je höher und machtvoller die Positionen in Firmen werden. Laut einer Untersuchung der renommierten Allbright-Stiftung lag 2022 die Männerquote unter den Vorstandsvorsitzenden der 160 größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland bei rund 95 Prozent. Wenn die Führungsebene so einheitlich aufgestellt ist – ob geschlechtlich oder soziokulturell – sind neue Blickwinkel kaum möglich.
Bewegen wir uns denn zumindest schnell genug in die richtige Richtung?
Die Statistik der Allbright-Stiftung von 2022 ist eindeutig: Würden wir mit dem durchschnittlichen Tempo der vergangenen fünf Jahre weitermachen, dann dauert es 26 Jahre, bis Parität zwischen Männern und Frauen in den Vorständen der Börsenunternehmen erreicht wäre. Das können wir so gesamtgesellschaftlich nicht wollen.
Diese Vielfalt auf allen Ebenen zu bewerkstelligen, können das Unternehmen überhaupt im Alleingang leisten?
Letztlich geht es um einen gesellschaftlichen Wandel, nicht nur um das Reporting einzelner Kennzahlen. Nordeuropäische Staaten geben in vielerlei Hinsicht Orientierungshilfe für neue Selbstverständlichkeiten, etwa bei Rollenbildern und Integrationsoptionen von Frauen. Aber ich merke, dass es auch in Deutschland vorangeht. Ob Equal pay oder Arbeitsschutz: Diese „Trends“ haben mittlerweile auch kleinere Mittelständler außerhalb der Großstädte auf der Agenda, nicht nur Konzerne. Aber es gibt noch einiges zu tun. Schauen wir mal genauer auf die Familienunternehmen: Am 1. März 2022 arbeiteten 408 Männer und 37 Frauen in den Geschäftsführungen der 100 größten deutschen Familienunternehmen. Das entspricht einem Frauenanteil von 8,3 Prozent. Zum Vergleich: Bei den an der Frankfurter Börse notierten Unternehmen beträgt der Anteil der Frauen 14,3 Prozent.
Und was bringt mir das als Unternehmer:in?
Studien belegen, dass Profitabilität direkt mit Diversität korreliert. Das gilt für gender-divers besetzte genauso wie für ethnisch und kulturell divers besetzte Teams. Sie haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, profitabler als der Industriedurchschnitt zu wirtschaften. Unternehmen haben zudem erwiesenermaßen Wettbewerbsvorteile beim Recruiting, beim Kampf um die besten Köpfe. Die Reputation am Markt steigt. Und nicht außer Acht zu lassen ist, dass einige Unternehmen bei der Auftragsvergabe an interne Diversitätsrichtlinien gebunden sind. Das heißt: Erfüllt ein Anbieter bestimmte Quoten nicht, geht er automatisch leer aus.
In welchen Ihrer Projekte konnten Sie Kunden hier unterstützen?
Wir haben beispielsweise die Diversitätsstrategie eines Kunden entwickelt und arbeiten an Analysen von B2C-Anbietern zu deren ESG-Außenwirkung. Die meisten unserer Projekte sind von der EU-Taxonomy und der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) geprägt.
Ob innovative Diversitätsstrategien oder verbesserte Reputation beim Konsumenten: Im Bereich „Social“ geht es also auch abseits neuer Berichterstattungspflichten bereits um deutlich mehr als Kosmetik.
Absolut, Nachhaltigkeitskennzahlen sind messbare Faktoren für Unternehmenserfolg. Der Druck auf Führungskräfte nimmt zu – das ist auch gut so.