Wie gelingt die Dekarbonisierung des deutschen Stromsystems bei gleichzeitigem Erhalt der Versorgungssicherheit während sogenannter Dunkelflauten? Das ist eine Schlüsselfrage für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Zentrales Element der Überlegungen für eine erfolgreiche Transformation ist die sogenannte Kraftwerksstrategie der Bundesregierung. Das neue Kraftwerkssicherheitsgesetz soll diese Strategie voranbringen. Wie ist die komplexe Lage aktuell einzuschätzen? Welche Fortschritte machen zuversichtlich – und was sind angesichts der drängenden Zeit die wichtigsten verbleibenden Herausforderungen? Wir klären auf.
Kraftwerkssicherheitsgesetz: Zwei Säulen im Fokus
Das Erfreuliche vorab: Die Umsetzung der im Februar angekündigten Kraftwerksstrategie nimmt Form an – endlich. Das am 5. Juli 2024 verabschiedete Kraftwerkssicherheitsgesetz (KWSG) sieht Ausschreibungen für bis zu 12,5 Gigawatt (GW) an neuen Kraftwerkskapazitäten und 500 Megawatt (MW) Langzeitspeicher vor – ein weiterer Schritt zur Etablierung einer Wasserstoffwirtschaft und Sicherung der Stromwirtschaft. Die Förderung ist dabei in zwei Säulen aufgeteilt:
- Säule 1 konzentriert sich auf den Ausbau und die Modernisierung von insgesamt 7,5 GW Kraftwerkskapazität. Diese Anlagen müssen spätestens ab dem achten Betriebsjahr auf den Einsatz von grünem oder blauem Wasserstoff umgestellt werden. Geplant sind Ausschreibungen für 5 GW neue wasserstofffähige Gaskraftwerke, 2 GW an wasserstoffkompatiblen Modernisierungen sowie 500 MW reine Wasserstoffkraftwerke, sogenannte H2-Sprinter. Darüber hinaus sollen 500 MW Langzeitspeicher entstehen. Die Förderung für Projekte der Säule 1 umfasst dabei sowohl Investitionen als auch, nach der Umstellung auf Wasserstoff, die Differenzkosten für 800 sogenannte Vollbenutzungsstunden pro Jahr zwischen Wasserstoff und Erdgas. Und sollte der geplante Ausbau des Wasserstoff-Kernnetzes nicht zügig erfolgen, um die neuen Kraftwerke mit Wasserstoff zu versorgen, können Betreiber auch auf andere grüne Gase – zum Beispiel Biomethan – zurückgreifen.
- Säule 2 fokussiert sich auf 5 GW neue Gaskraftwerke, die speziell in Zeiten der „Dunkelflaute“ als Absicherung dienen sollen. „Dunkelflauten“ sind Zeiten, in denen kein Wind oder Sonnenschein vorhanden ist, um grünen Strom zu produzieren. Bei den neuen Gaskraftwerken werden ausschließlich die Investitionen gefördert. Diese Anlagen sollen eine Übergangslösung und eine „Brücke“ in einen umfassenden, technologieoffenen Kapazitätsmechanismus sein, der ab 2028 wirksam werden soll, so das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK).
Stabilität im Stromnetz erhöhen und Kosten senken
Diese Maßnahmen sind begrüßenswert und im Sinne einer angestrebten Netz- und Systemstabilisierung der deutschen Energiewirtschaft. Die neuen Kraftwerke sollen vorzugsweise im „netztechnischen Süden“ angesiedelt werden, konkret in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz sowie dem Saarland, und sind damit weiter entfernt von den großen Windparks in Norddeutschland. Dies soll die Stabilität im Stromnetz erhöhen und vor allem Kosten senken, die dabei entstehen, wenn Kraftwerke ihre Leistung anpassen müssen, um zum Beispiel Engpässe im Stromnetz zu vermeiden.
Durch diese Einigung könnten sich jedoch auch Arbeitsplätze in der Energiewirtschaft vom Norden und Osten in den Südwesten verlagern, was ungewöhnlich ist, da einige Kraftwerksbetreiber neue Anlagen planen und Ihre Strategien entsprechend formuliert haben. Entscheidend ist, dass „die Kraftwerke dort entstehen, wo sie das Stromnetz unterstützen, also auch in Ostdeutschland“, so Stefan Kapferer, CEO des Übertragungsnetzbetreibers 50Hertz.
Versorgungslücke: Der tatsächliche Bedarf übersteigt die geplanten Kapazitäten
Angesichts des geplanten Kohleausstiegs bis 2038 und des steigenden Anteils volatiler, erneuerbarer Energien (Sonne, Wind) am Strommix gehen Studien von einer Leistungslücke von 37 GW an flexiblen Kraftwerken aus, bei einem früheren Kohleausstieg bis 2030 sogar bis zu 43 GW. Es ist offensichtlich: Die geplanten 12,5 GW zusätzlichen Kapazitäten reichen nicht aus, um die entstehende Versorgungslücke zu schließen.
Dass der Bundesregierung dieses Problem bewusst ist, zeigt der ursprünglich im August 2023 vorgestellte Regulierungsrahmen, der eine Kapazitätserweiterung um 24 GW vorsah. Es stellt sich die Frage: Kann die Energieversorgung auch ohne umfangreiche staatliche Hilfe wirtschaftlich attraktiv gestaltet werden? Hierfür wäre eine grundsätzliche Umgestaltung des Strommarktes notwendig, etwa durch eine Prämie für Reserveleistungen (Versorgungssicherheit) – der angekündigte Kapazitätsmechanismus. Um die drohende Stromlücke zu schließen, braucht es baldige Klarheit über die konkrete Ausgestaltung des Mechanismus. Vor dem Hintergrund des Vorhabens, den Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorzuziehen, drängt die Zeit – zumal der Bau neuer Kraftwerke zwischen vier bis sieben Jahren Zeit in Anspruch nimmt.
Das Optionenpapier des BMWK zu den Ausgestaltungsmöglichkeiten, die Konsultation der Plattform Klimaneutrales Stromsystem, bestehend aus Akteuren aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, sowie die darauffolgende Entscheidung der Bundesregierung werden von der Energiewirtschaft dringlichst erwartet.
Unbeachtete Chance europäischer Zusammenarbeit
Bei den Ansätzen der Kraftwerksstrategie wird zudem ein wesentlicher Punkt außer Acht gelassen: Der Energiemarkt ist europäisch organisiert, nicht national. Auch unsere Nachbarländer stehen vor ähnlichen Herausforderungen in der Energiewende, während der grenzüberschreitende Energiehandel bereits jetzt eine wichtige Rolle spielt.
Das Potenzial, eventuelle Engpässe durch Strom- und Wasserstoffimporte auszugleichen, ist vorhanden, sofern grüner Wasserstoff verfügbar sein wird. Daher sollten der Ausbau der Handelspunkte und eine intensivere europäische Kooperation stärker in den Fokus rücken – ganz nach dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“.
Notwendige Weiterentwicklungen für eine sichere Energiezukunft
Das Kraftwerkssicherheitsgesetz setzt erste Impulse und schafft Planungssicherheit für Investoren, besonders beim Ausbau von wasserstofffähigen Kraftwerken und Langzeitspeichern. Doch der geplante Aus- und Neubau reicht angesichts der Versorgungslücke und einem steigenden Anteil volatiler Energieerzeugung aus Solar- und Windenergie nicht aus. Es braucht zügig einen Kapazitätsmechanismus und eine klare Ausgestaltung der Vorhaben, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Auch die europäische Zusammenarbeit ist stärker zu berücksichtigen, um die Energiewende erfolgreich zu gestalten. Nur mit zusätzlichen Maßnahmen und einer kontinuierlichen strategischen Anpassung können die ambitionierten Klimaziele erreicht und die Versorgungssicherheit dauerhaft gewährleistet werden.
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