Die meisten Expert:innen sind der Ansicht, dass die Zukunft der industriellen Produktion in Deutschland und der EU eng mit dem Erhalt unserer historischen Führungsposition in der Hochtechnologie verbunden ist.
In den letzten Jahren wird die Fähigkeit der Bereiche Forschung und Entwicklung (F&E) und Engineering, diese Position auf dem Weltmarkt aufrechtzuerhalten, jedoch in Frage gestellt. Neue internationale Konkurrenten wie China und Indien sind aufgetaucht, die eine große Zahl neuer Wissenschaftler:innen und Ingenieur:innen hervorbringen und ihre F&E-Ausgaben jährlich um 20 Prozent erhöhten.
Hinzu kommen drei seismische Entwicklungen, die höhere Ingenieurkapazitäten erfordern – in einem Arbeitsmarkt, in dem diese Kapazitäten bereits heute knapp sind. Sie stellen daher ein weiteres Hemmnis für F&E in deutschen und europäischen Unternehmen dar.
1. Digitale Transformation
Die Digitalisierung führt zu tiefgreifenden Veränderungen und ist eine zentrale Herausforderung der industriellen Produktion in Deutschland. Zunächst wirkte sie auf das Front- und Backoffice von Unternehmen, doch zunehmend betrifft die digitale Transformation die Bereiche Middleoffice und Produktion sowie die Produkte und Dienstleistungen selbst:
- Die Maschinen werden durch die Vernetzung einzelner modularer Einheiten zu übergreifenden, schnell und flexibel konfigurierbaren Produktionssystemen gebündelt.
- Der Anteil von Software an der Wertschöpfung von Produkten und Services steigt stetig.
- Die Verknüpfung von Ingenieurwesen und IT, Hardware und Software, OT (Operative Technologie) und IT wird kontinuierlich enger.
Aufgrund dieser Entwicklungen wächst der Bedarf an Ingenieur:innen weiter.
2. Service-Transformation
IT wird immer stärker in das Design von Produkten integriert. Dadurch bewegen sich diese hin zu Service- und Plattform-Modellen. So verkaufen Hersteller von langlebigen Konsumgütern heutzutage beispielsweise nicht einfach nur ein Küchengerät, sondern bieten den Kund:innen technische Produkte an, die mit integrierter IT ausgestattet und vernetzt sind. Diese werden ergänzt mit einer Dienstleistung (im ersten Schritt als Abonnementmodell) – beispielsweise einer Rezeptdatenbank oder der Vernetzung mit Lieferdiensten.
Auch Automobilhersteller entwickeln ihr Geschäftsmodell von einem B2B- zu einem B2C-Modell weiter. Mit Abonnement-Lösungen für digitale Dienste wie Entertainment und Navigation schaffen die Unternehmen eine direkte Verbindung zu den Endkunden – ohne Zwischenstufen wie Händler oder Autobanken. Dies hat fundamentale Auswirkungen auf Prozesse und Systeme. Beispielsweise verfügten die Hersteller in der Regel bislang nicht über CRM- und Abrechnungssysteme, die mit Millionen von Kunden umgehen können. Diese Systeme und Prozesse werden jetzt in den Unternehmen implementiert.
Auch diese Entwicklungen erfordern höhere Ingenieurkapazitäten. Dies gilt ebenso für die dritte Transformation, mit der Unternehmen jetzt konfrontiert sind.
3. Energiewende
Der Umstieg auf erneuerbare, klimafreundliche Energiequellen verändert die industrielle Produktion direkt und indirekt:
- Indirekt haben neue Umweltinitiativen wie der Green Deal der EU – eine Reihe von Zielvorgaben und politischen Zielen, die vom Europäischen Parlament im Jahr 2020 verabschiedet und im Februar 2021 erweitert wurden – erhebliche Auswirkungen, die mit der Einhaltung der Vorschriften in den Industriesektoren zu tun haben. Kunden verlangen von ihren OEMs und Händlern „sauberere“ Maschinen und nachhaltigere Reparatur- und Wartungsdienstleistungen. Dies wirkt als Verstärker auf die digitale und die Service-Transformation.
- Direkt verändert zum Beispiel die politisch gewollte Abkehr von Verbrennungsmotoren und die Transformation hin zur Elektromobilität das Produkt- und Service-Portfolio von Automobilherstellern und Zulieferern. Auch diese Entwicklung verstärkt die digitale und die Service-Transformation.
Engineering Services Sourcing wächst kräftig
Eine in Deutschland noch zu wenig beachtete Entwicklung ist das Wachstum von Ingenieurdienstleistungen: Der Markt für Engineering Services Sourcing (ESS) wächst dynamisch. Engineering Services Provider (ESPs) übernehmen immer häufiger die Führung bei der Integration von Ingenieurwesen/Maschinenbau und IT, Hardware und Software, OT und IT.
Wir befinden uns heute in der zweiten Welle der Entwicklung von ESS. Das Angebot von ESPs hat sich seit den 1980er Jahren vom einfachen Scannen und Digitalisieren technischer Zeichnungen über die Wartung von Produkten und Services hin zu Partnerschaften für Produktentwicklung und technische Beratung entwickelt.
KPMG schätzt, dass die weltweiten Ausgaben für Ingenieurleistungen insgesamt von rund 930 Milliarden Dollar im Jahr 2012 auf 1.400 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr gestiegen sind. Dies entspricht einem Wachstum von 50 Prozent in rund einem Jahrzehnt. Etwa jeweils 30 Prozent dieser Ingenieurleistungen könnten in internationale ESPs ausgelagert werden. Die tatsächlich ausgelagerten Aufgaben bzw. Projekte machen etwa 10 bis 15 Prozent der Ingenieurleistungen aus, also rund die Hälfte der auslagerungsfähigen Leistungen.
So wird ESS bereits genutzt
Die werden vom Automobilsektor angeführt. OEMs und Zulieferer nutzen ESS, um die Transformation von Verbrennungsmotoren hin zur Elektromobilität erfolgreich umzusetzen. Halbleiter-, Technologie- und Telekommunikationsunternehmen nutzen ESS, um kürzere Produktlebenszyklen und technologische Innovationen zu erreichen.
Die wachsende Bedeutung von ESS ist auch ablesbar an etlichen Übernahmen von Ingenieurdienstleistern durch IT- oder Beratungsunternehmen in den vergangenen Jahren. Ein weiteres Indiz ist das Wachstum von unternehmenseigenen Captive Offshore Centers für Ingenieurdienstleistungen vor allem in Indien und China. Allein in Indien schätzt KPMG die Anzahl von ESS-Captives auf mehr als 1.000.
ESS als Lösung für den Fachkräftemangel
Damit fehlen am Arbeitsmarkt für Unternehmen Ingenieure. Die Kapazitäten werden weiter sinken: Genauso wie Software-Ingenieure mittlerweile bei Dienstleistern tätig sind und Offshore arbeiten, wird das auch bei anderen Ingenieurdisziplinen zunehmend der Fall sein.
Um dieser Herausforderung zu begegnen, sollten Unternehmen für ihre wachsenden Ingenieurbedarfe und F&E-Projekte unbedingt auch ESS in Betracht ziehen. So können sie mit der wachsenden Kundennachfrage beispielsweise nach digitalisierten und vernetzten Produkten Schritt halten. Auch geraten sie gegenüber der globalen Konkurrenz nicht ins Hintertreffen.
Zudem verschafft die Nutzung von Ingenieurdienstleistungen in ESPs Unternehmen eine höhere Flexibilität und Zugang zu externer Expertise in den Partner-Ökosystemen.