Bunte Tablettenmischung im Glasröhrchen.

Generika? Brauchen wir bald nicht mehr

Branche wird durch Digitalisierung herausgefordert – und sollte das als Chance nutzen.

Pharmazeutika nach Auslauf der Patente kopieren und günstiger verkaufen: Jahrzehnte lang war dies das Erfolgsrezept der Unternehmen der Generika- und Biosimilarsindustrie. Doch damit könnte bald Schluss sein. Gleich mehrere digitale und disruptive Entwicklungen in der Medizin der letzten Jahre und aus anderen Branchen fordern dieses Geschäftsmodell der Unternehmen heraus.

Personalisierte Tabletten und Organe aus dem Drucker

Wissenschaft und Pharmahersteller arbeiten weltweit an Innovationen wie personalisierter Medizin und passenden Dienstleistungen. In absehbarer Zeit werden Patientinnen und Patienten digital auf sie zugeschnittene Arzneimittel erhalten – und zwar an dezentralen Versorgungsstellen wie Apotheken und Arztpraxen. Zumindest für diese Patient:innen werden Generika obsolet. Die Hersteller von Biosimilars wiederum erhalten Konkurrenz durch neue mobile Bioreaktoren. Diese lassen an jedem beliebigen Ort neue Minifabriken entstehen, die in weniger als 24 Stunden Arzneimittel wie Insulin produzieren. Amerikanische Wissenschaftler:innen arbeiten mit Hochdruck an dieser disruptiven Innovation. Außerdem wird digitale, künstliche Intelligenz künftig Forschungskosten massiv senken – und Originalpräparate der Pharmaindustrie ähnlich günstig wie Generika und Biosimilars machen. Mit Hilfe von 3D-Druck könnten Patient:innen ihre Arzneien zuhause in der Küche ausdrucken, sogenannte Printlets. Und mit dem 4D-Drucker wird sogar das Herstellen veränderbaren Gewebes denkbar, beispielsweise für Organe oder Implantate, die mitwachsen.

Branche nimmt Disruptionen bislang wenig ernst. Das ist gefährlich.

Diese Innovationen sollten die Unternehmen der Branche massiv unter Druck setzen. Im Gespräch mit unseren Kundinnen und Kunden fällt mir jedoch auf, dass die betroffenen Unternehmen das Thema bislang wenig ernst nehmen. Noch sind diese Technologien digitale Zukunftsmusik oder nur ein einzelner Trend, heißt es da oft. Oder: Wir als Unternehmen sind essenziell für die Gesundheitsversorgung, die Politik wird nicht zulassen, dass wir in Zukunft verdrängt werden. Leider muss ich sagen, das ist naiv. Medikamente kopieren allein wird über kurz oder lang als Geschäftsmodell nicht mehr ausreichen.

Disruptionen nutzen und als Chance begreifen

Was ist also zu tun? Ich empfehle jedem Unternehmen, sofort auf diese disruptiven Innovationen zu reagieren. Überlassen Sie das Feld der Zukunft nicht Branchenfremden mit ihren Dienstleistungen und Innovationen oder gar digitalen Newcomern. Behalten Sie Ihre Kundin und Ihren Kunden im Blick und begreifen Sie die digitale Disruption nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Erobern Sie die neuen Märkte, indem sie die neuen Technologien selbst nutzen und den Markt der Zukunft selbst gestalten.

Dazu gehört, Online-Konzernen mit ihrem Digitalisierungs-Know-how nicht die Möglichkeit zu überlassen, mit ihren digitalen Plattformen auch den Pharmamarkt im Internet zu vereinnahmen. Die Unternehmen der Life Sciences-Branche sollte dies selbst tun – und zwar mit Hochdruck, größtmöglicher Kooperation und Einigkeit sowie aktivem Zugehen auf Kundin und Kunde. Denn online eröffnen sich nicht nur neue Vertriebskanäle. Vielmehr lässt sich hier auch die große Macht der Daten (Big Data) nutzen – und ganz neue Geschäftsmodelle erschließen.

Beispiel smarte Hausapotheke

Dies könnten die Unternehmen der Generika- und Biosimilarsindustrie umsetzen, indem sie beispielsweise schon heute und nicht erst in Zukunft in die Entwicklung und Verbreitung digitaler, smarter Hausapotheken investieren oder zumindest strategische Allianzen mit Start-ups oder digitalen Partnern schmiedet, die daran arbeiten – global wie national. Denn hier eröffnet sich ein riesiger Markt für Pharma-Industrie und ihre Unternehmen: Bei oft mehr als 50 Packungen, Tuben und Fläschchen in durchschnittlichen Haushalten, verlieren immer älter werdende Patient:innen schnell den Überblick. Smarte, digitale, eventuell auch KI-basierte Hausapotheken könnten informieren, wann welches Medikament eingenommen werden soll, wann ein E-Rezept angefordert oder eine Internet-Bestellung ausgelöst werden muss. Kurz: Allein hier entstehen viele neue digitale Geschäftsmodelle. Die Unternehmen der Branche sollten sie nutzen, sonst werden sie an Bedeutung verlieren.

Autor: Prof. Dr. Heiko von der Gracht