Megatrends wie Fachkräftemangel, Digitalisierung, eine alternde Gesellschaft und Urbanisierung verändern den Gesundheitssektor nachhaltig. Im Gespräch mit Dr. Stefan Knupfer, Vorstand der AOK PLUS, eine der größten gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, und Torsten Müller, Partner Healthcare, wird deutlich, wie Krankenkassen die digitale Begleitung von Patient:innen vorantreiben können, um die Gesundheitskompetenz zu stärken und Menschen dabei zu unterstützen, nicht nur gesund zu werden, sondern in erster Linie zu bleiben.
Torsten Müller: Herr Dr. Knupfer, Sie sind seit dem Jahr 2014 als Vorstand bei der AOK PLUS tätig. Welche akuten Veränderungspotenziale haben Sie in den vergangenen Jahren ausfindig gemacht und welche Ziele verfolgen Sie in den kommenden Jahren?
Dr. Knupfer: In unserer Historie ist die Identität als Gesundheitskasse bereits seit vielen Jahrzehnten angelegt. Wir wissen aber, dass sich die Rolle der gesetzlichen Krankenkassen weiter verändern wird. Als AOK PLUS begleiten wir 3,4 Millionen Menschen auf dem Weg zu ihrem maximalen, individuellen Gesundheitslevel. In einem zunehmend unübersichtlichen Gesundheitsmarkt ist es unser Anspruch, Orientierung zu geben. Das ist eine Rolle, die weit über das antiquierte Bild des Kostenträgers hinausgeht. Wir sind intensiv vernetzt mit Leistungserbringenden, wir haben ein umfassendes Leistungsportfolio und möchten für unsere Versicherten erste Anlaufstation sein, wenn sie Fragen zu Gesundheitsthemen haben. Bei vielen Kundinnen und Kunden rennen wir damit offene Türen ein. Sie erwarten von ihrer Krankenversicherung, was sie woanders längst bekommen: personalisierte Dienstleistungen, die aufgrund zahlreicher intelligent verknüpfter Daten ganz auf sie zugeschnitten sind. Aus meiner Sicht müssen Krankenkassen eine proaktive Lotsenrolle einnehmen und noch gezielter im Sinne der Menschen agieren. Wenn wir unsere Versicherten begeistern wollen, müssen wir verstehen, was sie beschäftigt, welche Unterstützung sie in ihrem Alltag benötigen und wo sie stehen.
Wie gut ist der Gesundheitssektor Ihrer Meinung nach im Hinblick auf die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen und Anforderungen unserer Umgebung eingestellt?
Im Kern steht folgende Grundsatzfrage: Mit welchem Gesundheitssystem können wir langfristig die Gesundheit der Menschen sichern? Und hier stelle ich diese These auf: Mit dem aktuellen kostenintensiven, therapiefokussierten und zersplitterten System wird uns das nicht gelingen. Die Zukunft muss individueller, präventiver, ambulanter werden. Wir spüren einen den enormen Veränderungsdruck im Gesundheitswesen. Gesundheit ist einer der globalen Megatrends und findet in allen Lebensbereichen statt. Gleichzeitig entstehen neue Wertebilder: Menschen wollen nicht nur gesund werden, sondern vor allem gesund bleiben. Das führt zu einem Paradigmenwechsel: weg von einer reinen Reparaturmedizin und hin zu mehr Prävention. Dafür braucht es konkrete strukturelle Veränderungen, die aus meiner Sicht aktuell noch zu zaghaft angegangen werden.
Die Coronapandemie war ein Paradebeispiel dafür, wie schnell und umfassend sich Bedingungen verändern können. Das erfordert kurze Entscheidungswege und rasche Reaktionen. Zu Beginn der Pandemie mussten wir quasi über Nacht Filialen schließen und wollten dennoch für unsere Kundinnen und Kunden da sein. Seitdem haben sich die Anfragen per E-Mail oder Telefon nahezu verdoppelt. Ein Trend, den wir auch in unserer Onlinefiliale sehen. Hier haben wir seit 2020 fast 300.000 neue Nutzerinnen und Nutzer hinzugewonnen.
Der Digitalisierungsschub, den die Coronapandemie ausgelöst hat, führt zu dauerhaft veränderten Bedürfnissen unserer Versicherten. Die Menschen haben ihre Rolle im Gesundheitssystem längst weiterentwickelt und verstehen sich eher als Gesundheitskundschaft, denn als Patientinnen und Patienten. Diesen Weg schlagen wir mit unserer digitalen Gesundheitsassistentin NAVIDA ein, einer App, die unsere Idee des Gesundheitslotsen auf das Smartphone der Menschen bringt: vom KI-gestützten Symptomchecker über den Vorsorgekompass bis hin zur Videosprechstunde.
Wie können digitale Gesundheisangebote aus Ihrer Sicht dazu beitragen, die Zusammenarbeit von gesetzlichen Krankenkassen und ihren Versicherten zu unterstützen?
Digitale Prozesse haben einen Mehrwert für unsere Kundinnen und Kunden. Wer geht beispielsweise schon gern für eine simple Adressänderung in eine Filiale, wenn sich das auch mit ein paar Klicks digital erledigen lässt. Es geht darum, Angebote und Services zu generieren, die in den Alltag der Menschen passen. In der Praxis heißt das zum Beispiel, dass bei der AOK PLUS mittlerweile neben Gesundheitsexpertinnen und -experten auch User-Experience-Designer:innen arbeiten. Wir entwickeln unsere digitalen Produkte nicht vom grünen Tisch aus, sondern erarbeiten gemeinsam mit unseren Versicherten passende Lösungen.
Je komplexer die eigene Situation, desto stärker ist jedoch die persönliche Beratung gefragt. Wir wollen auch in der vollständig analogen Welt mehr für die Menschen da sein und Zeit für sie haben. Dafür müssen wir unsere Mitarbeitenden von Prozessen entlasten, die einfacheren Regelwerken folgen und gut automatisiert werden können.
Die Allgemeinen Ortskrankenkassen sind mit vielen Geschäftsstellen in Deutschland vertreten. Welche Rolle spielt die Vor-Ort-Präsenz in der Unternehmensstrategie und inwiefern könnte oder muss sie zukünftig durch die Umsetzung geeigneter Digitalisierungsmaßnahmen in Sachsen und Thüringen verändert werden?
Würden wir die Filialen rein auf das Geschäft nach Sozialgesetzbuch (SGB) beschränken, dann wären sie irgendwann nicht mehr nötig. Die Kostenträgerrolle wird perspektivisch vollständig automatisiert ablaufen können. Stattdessen definieren wir selbst einen ganzheitlichen Bestimmungszweck: Für uns geht es darum, für die Menschen da zu sein. Mit digitalen und innovativen Angeboten, aber eben auch ganz menschlich mit einer persönlichen Beratung. Wir bekennen uns daher klar zu unseren Filialen. Beide Perspektiven im Zusammenspiel unterstreichen unseren Lotsengedanken.