Wer an ESG denkt, der spricht oft von Nachhaltigkeit, weniger CO2-Ausstoß und verbindet damit in erster Linie das „E“, das für „Environmental“ steht. Das „E“ spielt in ESG eine wichtige und entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden. Gleichwohl soll in diesem Text der Aspekt „Social“ oder „S“ in ESG beleuchtet werden. Dies umfasst mithin auch Fragen rund um den demografischen Wandel und eng damit verbunden die Wohnsituation in jeder Lebensphase. Hier sind sozialverträgliche Antworten gefragt, die die Immobilienbranche in den nächsten Jahren vor zahlreiche Herausforderungen stellen wird.
Der Wunsch nach selbstbestimmtem Wohnen nimmt zu
Mit fortschreitendem Alter verbringen Menschen immer mehr Tageszeit zuhause. Wohnen ist ein wesentlicher, wenn nicht sogar der wesentlichste Aspekt der Lebenslage von Senior:innen. Und insbesondere die Ansprüche an das Wohnen im Alter haben sich in den vergangenen Jahren aufgrund des Wandels der gesellschaftlichen Lebensformen stark verändert. Den klassischen Ruhestand gibt es heute immer weniger. Soziale Teilhabe, Fitness und Vitalität nehmen für Menschen ab 65 Jahren einen deutlich höheren Stellenwert ein als je zuvor.
Altersgerechte Wohnungen: Hohe Nachfrage und wenig Angebote
Der Wunsch nach einer selbstbestimmten individuellen Gestaltung der Zukunft bis ins hohe Alter bewirkt, dass für viele Senior:innen klassische Alters- oder Pflegeheime als Wohnstätte der letzten Lebensphase ausscheiden. Die große Mehrheit will in den eigenen vier Wänden betreut werden. Dass die Versorgung älterer Menschen in gewohnter Umgebung deutlich zunimmt, zeichnet sich auch in den Pflegestatistiken ab. Während 2009 rund 69 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause betreut wurden, belief sich deren Anteil im Jahr 2019 bereits auf etwa 80 Prozent.
Dieser Trend stellt den Immobiliensektor vor einige zu meisternde Herausforderungen. Immobilien für Senior:innen brauchen durchdachte Konzepte, damit die Mobilität und Selbstständigkeit der Bewohner:innen aufrechterhalten werden kann. Der Bedarf an altersgerechten Wohnungen kann aktuell bei Weitem nicht gedeckt werden. 2018 bestand eine Versorgungslücke von etwa 2,4 Millionen altersgerechten Wohnungen. Sie ist damit viermal so hoch wie das bestehende Angebot von rund 0,6 Millionen Wohnungen. Selbst wenn der Bestand an altersgerechten Wohnungen bis zum Jahr 2035 auf rund 1,7 Millionen ansteigen wird, bleibt bei weiter wachsender Nachfrage immer noch eine Versorgungslücke von rund zwei Millionen Wohnungen. Dieses Defizit lässt sich nur durch eine gezielte Transformation des bestehenden Wohnungsraums und den Einsatz neuer Technologien auffangen.
Digitale Produkte verbessern die Lebensqualität
Wie kann älteren Menschen das Leben im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung erleichtert werden? Hier spielt „Ambient Assisted Living“ (AAL) eine große Rolle. Unter AAL-Lösungen versteht man Technologien, die die Lebensqualität im eigenen Zuhause verbessern. Bekannte Anwendungen sind zum Beispiel Staubsauger-Roboter oder intelligente Kühlschränke, die über Apps mit dem Smartphone verbunden sind und sich melden, wenn sich etwa der Milchvorrat dem Ende zuneigt. Auch gibt es AAL-Lösungen im Gesundheitsbereich, zum Beispiel telemedizinische Produkte, die Vitaldaten aufzeichnen. Auch intelligente Matratzen, die Wundliegen verhindern, oder sensorische Sturzmatten können Senior:innen zuhause unterstützen.
Trotz vereinzelt noch bestehender Zweifel im Seniorenkreis in Bezug auf Stigmatisierung, Datenschutz, Alltagstauglichkeit und Produktverfügbarkeit befindet sich der Markt für Ambient-Assisted-Living-Lösungen auf Wachstumskurs. Zwischen 2017 und 2021 hat sich der Gesamtumsatz, der mit AAL erwirtschaftet wurde, mehr als versechsfacht, von rund 58 auf 383 Millionen Euro.
In altersgerechten Quartieren leben Senior:innen in einem adäquaten sozialen Umfeld
Die gesundheitliche Absicherung in der Wohnung oder im Haus ist nur ein Aspekt, der im Rahmen des Alterswohnens berücksichtigt werden sollte. Ein anderer ist die Frage nach sozialen Gesichtspunkten. Wie können ältere Menschen so wohnen, dass sie sich nicht nur sicher, sondern auch wohl fühlen in ihrer Umgebung, Freizeitangebote wahrnehmen können und sozial gut angebunden sind? Altersgerechte Quartiere, die Wünsche und Bedürfnisse älterer Menschen vereinen, bieten hier eine gute Lösung. Folgende Kriterien sind zur Entwicklung derartiger Wohnquartiere von besonderer Bedeutung:
- eine tragende soziale Infrastruktur,
- ein wertschätzendes gesellschaftliches Umfeld,
- bedarfsgerechte Wohnangebote,
- eine generationengerechte räumliche Infrastruktur,
- bedarfsgerechte Dienstleistungen und Angebote (z.B. Wäschereiservices, häusliche Tagespflegekonzepte, Bürger- und Kulturforen),
- sowie eine wohnortnahe Beratung und Begleitung.
In den vergangenen Jahren ist die Zahl altersgerechter Quartiere gestiegen. Jedoch bringt die Entwicklung weiterer Viertel einige Hürden mit sich. Die größte ist – neben den aufgrund der aktuellen Marktlage stark steigenden Baukosten – oft die Finanzierung dieser Bauvorhaben. Das Einwerben von Fördermitteln verursacht einen enormen Dokumentationsaufwand und unterliegt den bürokratischen Strukturen der deutschen Behörden. Kleinste Abweichungen von den amtlichen Bauauflagen können die Finanzierung und damit das gesamte Bauvorhaben kippen.
Dialog aller Beteiligten ist entscheidend
Die wirtschaftliche Tragfähigkeit von Wohnkonzepten für Senior:innen wird ohne zusätzliche Fördermittel oder Kostenerstattungen, nicht nur für private Investoren, sondern auch für Immobilienunternehmen, öffentliche und freigemeinnützige Eigentümer und Träger derartiger Quartiere kaum gegeben sein. Ein problemlösungsorientierter Dialog aller Beteiligten, insbesondere zwischen der Politik, Wohnungs- und Grundstückseigentümern und Investoren zu altersgerechten Quartierskonzepten ist daher unerlässlich. Nur dann wird man dem „S“ in ESG gerecht werden und älteren Menschen ermöglichen, das Wohnen in den eigenen vier Wänden so angenehm und würdevoll wie möglich zu gestalten.