In der Geschichte der Erfindungen gibt es selten nur einen Weg zum Ziel. Nehmen wir das Beispiel Elektrizität: Strom kann als Wechselstrom oder Gleichstrom fließen. Wie unterschiedlich wiederum Stecker sein können, weiß jeder, der viel reist. Jede Erfindung definiert also ihren Standard. Und je enger die Welt durch die Globalisierung verzahnt wurde, desto wichtiger wurde es, sich weltweit auf einen Standard zu einigen. Bei Schiffscontainern sehen wir, wie erfolgreich das sein kann. Die Normung der Container hat den internationalen Handel vereinfacht und die Globalisierung der Wirtschaft erheblich vorangetrieben.
Nun geht es darum, sich auf einen globalen Standard für wegweisende neue Technologien zu einigen. Die Standardisierung hat dabei sowohl eine technische als auch eine regulatorische Komponente. Was wir dabei sehen ist, dass China und die USA – zwei Länder, die den technologischen Fortschritt der Welt heute bestimmen – die Standardisierung international als politisches Druckmittel einsetzen. Die Gefahr ist eine technologische Entkopplung, das sogenannte Decoupling.
Derzeit betrifft das Decoupling technologischer Standards vor allem die Bereiche Microchips, Cloud-Nutzung und den Telekommunikationsstandard 5G – also primär alle zukunftsgerichteten datengetriebenen digitalen Technologien. Denkbar ist aber auch, dass dies in Zukunft vielfältige bislang global genutzte, allgemein gültige Normen umfassen könnte – mit negativen Folgen für die Globalisierung.
Unterschiedliche Standards sind in diesen sensiblen Bereichen viel gravierender als unterschiedliche Steckdosen. Daraus könnten Technologiebrüche resultieren, das heißt die Separierung bislang vernetzter, interagierender, globaler Systeme über Ländergrenzen hinaus. Separierung ist in diesem Zusammenhang gleichbedeutend mit Abschottung.
Während beim Stromstecker oder Dateiformaten wie mp3 technische und wirtschaftliche Gründe über den dominanten Standard bestimmten, drohen beim Decoupling politische Entscheidungen, die dann die Nutzung der jeweils anderen Technologie und Standards in heimischen Märkten explizit verbieten. Die Folge für die Wirtschaft: Unternehmen, die global produzieren und vertreiben, sind gefordert, sich auf zwei sets of standards einzustellen. Nicht nur einmalig, sondern auch hinsichtlich deren Forschung und Weiterentwicklung.
Für Unternehmen in Europa, insbesondere die stark global orientierten deutschen Unternehmen, ist das der „worst case“. Das Decoupling führt entweder zu massiv höheren Kosten bei gleichzeitigem Verlust an Flexibilität mit Blick auf die Lieferketten und Produktionsstandorte in der Welt. Oder es führt zur Aufgabe einer der beiden Standards und damit zum Rückzug aus den USA oder China, die für deutsche Unternehmen bedeutendsten Märkte. Zudem müssten deutsche Unternehmen sicherstellen, dass für den chinesischen Markt keine US-Technik verarbeitet ist und umgekehrt. Das ist ein nahezu unmögliches Unterfangen.
Hinzu kommt, dass Fehlverhalten strafbewehrt ist. Das heißt, die Nutzung von US-Technik in China (und umgekehrt) wird sanktioniert – von Strafgeldern, über persönliche Haftung der dortigen Geschäftsführer bis hin zum Ausschluss der Unternehmen aus dem Markt. Volkswirtschaftlich gesehen ist das alles ein Desaster.
Meines Erachtens sehen wir ein stetig fortschreitendes Decoupling. Darüber täuscht auch nicht hinweg, dass die Politik mittlerweile den Begriff des „Decouplings“ vermeidet und stattdessen den Ausdruck „Derisking“ verwendet.
China hat sich zum Ziel gesetzt, global die technologische Führerschaft von der westlichen Welt und insbesondere den USA zu übernehmen. Um dies zu erreichen, ist Abschottung und Decoupling für China eigentlich kein geeignetes Mittel, denn China würde sich hierdurch selbst den westlichen Markt verschließen, gerade auch in Europa.
Aus chinesischer Sicht ist es viel erfolgversprechender, konsequent den eingeschlagenen Weg der Investitionen in Forschung und Entwicklung fortzusetzen und ihre fundamentalen Wettbewerbsvorteile in der Weltwirtschaft zu nutzen: Mit 1,4 Milliarden Einwohnern, einer staatlich gesteuerten dynamischen Digitalisierungsstrategie und keiner Begrenzung durch Datenschutzvorschriften kann China viel schneller und effizienter Forschung und Entwicklung betreiben, als dies der westlichen Welt möglich ist. Und China hat in den letzten Jahren bereits gezeigt, wie schnell es dem Land gelingt, neue innovative Technologien zu entwickeln und umzusetzen.
Nach den weiter schwelenden Zollkonflikten ist das Decoupling vielmehr ein weiterer Versuch der USA, das Vordringen der Wirtschaftsmacht China zu bremsen. Und erneut werden Europa und vor allem deutsche Unternehmen in diesen Strudel geraten. Aber anders als bei Zöllen lassen sich einmal etablierte technologische Standards nicht so schnell wieder abschaffen. Daher weist das Decoupling auch ein viel größeres Gefahrenpotenzial für die Weltwirtschaft auf als Zollkriege. Wenn auf diesem Weg fortgeschritten wird, gibt es nur Verlierer und droht auf lange Zeit ein enormer volkswirtschaftlicher Schaden.