Symbolbild zum Technologischen Decoupling: Stecker mit mehreren Steckdosenanschlüssen

4 Fragen und Antworten zum technologischen Decoupling

Rückschritt für die Globalisierung? Welche Risiken hat die technologische Entkopplung?

In der Geschichte der Erfindungen gibt es selten nur einen Weg zum Ziel. Nehmen wir das Beispiel Elektrizität: Strom kann als Wechselstrom oder Gleichstrom fließen. Wie unterschiedlich wiederum Stecker sein können, weiß jeder, der viel reist. Jede Erfindung definiert also ihren Standard. Und je enger die Welt durch die Globalisierung verzahnt wurde, desto wichtiger wurde es, sich weltweit auf einen Standard zu einigen. Bei Schiffscontainern sehen wir, wie erfolgreich das sein kann. Die Normung der Container hat den internationalen Handel vereinfacht und die Globalisierung der Wirtschaft erheblich vorangetrieben.

Was ist Decoupling?

Nun geht es darum, sich auf einen globalen Standard für wegweisende neue Technologien zu einigen. Die Standardisierung hat dabei sowohl eine technische als auch eine regulatorische Komponente. Was wir dabei sehen ist, dass China und die USA – zwei Länder, die den technologischen Fortschritt der Welt heute bestimmen – die Standardisierung international als politisches Druckmittel einsetzen. Die Gefahr ist eine technologische Entkopplung, das sogenannte Decoupling.

Derzeit betrifft das Decoupling technologischer Standards vor allem die Bereiche  Microchips, Cloud-Nutzung und den Telekommunikationsstandard 5G – also primär alle zukunftsgerichteten datengetriebenen digitalen Technologien. Denkbar ist aber auch, dass dies in Zukunft vielfältige bislang global genutzte, allgemein gültige Normen umfassen könnte – mit negativen Folgen für die Globalisierung.

Welche Gefahr birgt das Decoupling für Weltwirtschaft und Unternehmen?

Unterschiedliche Standards sind in diesen sensiblen Bereichen viel gravierender als unterschiedliche Steckdosen. Daraus könnten Technologiebrüche resultieren, das heißt die Separierung bislang vernetzter, interagierender, globaler Systeme über Ländergrenzen hinaus. Separierung ist in diesem Zusammenhang gleichbedeutend mit Abschottung.

Während beim Stromstecker oder Dateiformaten wie mp3 technische und wirtschaftliche Gründe über den dominanten Standard bestimmten, drohen beim Decoupling politische Entscheidungen, die dann die Nutzung der jeweils anderen Technologie und Standards in heimischen Märkten explizit verbieten. Die Folge für die Wirtschaft: Unternehmen, die global produzieren und vertreiben, sind gefordert, sich auf zwei sets of standards einzustellen. Nicht nur einmalig, sondern auch hinsichtlich deren Forschung und Weiterentwicklung.

Für Unternehmen in Europa, insbesondere die stark global orientierten deutschen Unternehmen, ist das der „worst case“. Das Decoupling führt entweder zu massiv höheren Kosten bei gleichzeitigem Verlust an Flexibilität mit Blick auf die Lieferketten und Produktionsstandorte in der Welt. Oder es führt zur Aufgabe einer der beiden Standards und damit zum Rückzug aus den USA oder China, die für deutsche Unternehmen bedeutendsten Märkte. Zudem müssten deutsche Unternehmen sicherstellen, dass für den chinesischen Markt keine US-Technik verarbeitet ist und umgekehrt. Das ist ein nahezu unmögliches Unterfangen.

Hinzu kommt, dass Fehlverhalten strafbewehrt ist. Das heißt, die Nutzung von US-Technik in China (und umgekehrt) wird sanktioniert – von Strafgeldern, über persönliche Haftung der dortigen Geschäftsführer bis hin zum Ausschluss der Unternehmen aus dem Markt. Volkswirtschaftlich gesehen ist das alles ein Desaster.

Wo stehen wir derzeit beim Decoupling international?

  • Bereits im Mai 2020 hat das US-Handelsministerium 33 chinesische Organisationen und Personen benannt, die wegen vermeintlich militärischer Verwendung keine Technik erwerben dürfen, die aus den USA stammt.
  • 5G ist die neue Generation im Mobilfunk und weist eine bis zu zehnfach höhere Datenübertragung als 4G (LTE) auf. Die chinesischen Unternehmen Huawei und ZTE sind zwei der wichtigsten Anbieter für 5G. Im November 2022 haben die USA Kommunikationsgeräte von Huawei und ZTE als Risiko für die nationale Sicherheit eingestuft und deren Verkauf und Import verboten. Auch Großbritannien hat Huawei-Technik beim Aufbau des dortigen 5G-Netzes verboten. Die EU-Kommission will, dass europäische Netzbetreiber wie beispielsweise die Deutsche Telekom auf Huawei und ZTE verzichten.
  • Im Oktober 2022 haben die USA ein Exportverbot nach China für alle in den USA hergestellten Microchips und Anlagen zur Herstellung von Microchips verhängt, den sogenannten „China Chip Ban“. Im März 2023 haben sich die Niederlande hinsichtlich des dort ansässigen Chipherstellers ASML und Japan hinsichtlich ihrer Anlagenbauer Tokyo Electron, Screen Holdings und Nikon dem Exportverbot angeschlossen.
  • China hat sich zwischenzeitlich revanchiert, indem Chips des US-Herstellers Micron verbannt wurden. Außerdem hat China Exportverbote für Photovoltaik-Technologien erlassen, bei denen China mit einem globalen Marktanteil von 80 Prozent weltweit führend ist.
  • Die chinesische Kurzvideo-App TikTok des Mutterunternehmens ByteDance wird wegen Sicherheitsbedenken in immer mehr Ländern komplett verboten, unter anderem im Mai 2023 im US-Bundesstaat Montana. In der EU haben die EU-Kommission, der Europäische Rat und das Europaparlament Tiktok im Februar 2023 von Dienstgeräten ihrer Mitarbeiter verbannt, und auch in Deutschland kann die App auf Regierungsgeräten weder vorinstalliert noch heruntergeladen werden.
  • Auch auf akademischer Ebene wird der Konflikt ausgetragen: Chinesische Studierende und Forschende erhalten zu vermeintlich sensiblen Bereichen wie etwa der KI-Forschung nur noch eingeschränkten Zutritt. Plänen zufolge könnte chinesischen Studierenden und Forschenden der MINT-Fächer der Visa-Zugang erschwert werden.

Meines Erachtens sehen wir ein stetig fortschreitendes Decoupling. Darüber täuscht auch nicht hinweg, dass die Politik mittlerweile den Begriff des „Decouplings“ vermeidet und stattdessen den Ausdruck „Derisking“ verwendet.

Doch von wem geht das Decoupling aus und was ist Ursache des Decoupling?

China hat sich zum Ziel gesetzt, global die technologische Führerschaft von der westlichen Welt und insbesondere den USA zu übernehmen. Um dies zu erreichen, ist Abschottung und Decoupling für China eigentlich kein geeignetes Mittel, denn China würde sich hierdurch selbst den westlichen Markt verschließen, gerade auch in Europa.

Aus chinesischer Sicht ist es viel erfolgversprechender, konsequent den eingeschlagenen Weg der Investitionen in Forschung und Entwicklung fortzusetzen und ihre fundamentalen Wettbewerbsvorteile in der Weltwirtschaft zu nutzen: Mit 1,4 Milliarden Einwohnern, einer staatlich gesteuerten dynamischen Digitalisierungsstrategie und keiner Begrenzung durch Datenschutzvorschriften kann China viel schneller und effizienter Forschung und Entwicklung betreiben, als dies der westlichen Welt möglich ist. Und China hat in den letzten Jahren bereits gezeigt, wie schnell es dem Land gelingt, neue innovative Technologien zu entwickeln und umzusetzen.

Nach den weiter schwelenden Zollkonflikten ist das Decoupling vielmehr ein weiterer Versuch der USA, das Vordringen der Wirtschaftsmacht China zu bremsen. Und erneut werden Europa und vor allem deutsche Unternehmen in diesen Strudel geraten. Aber anders als bei Zöllen lassen sich einmal etablierte technologische Standards nicht so schnell wieder abschaffen. Daher weist das Decoupling auch ein viel größeres Gefahrenpotenzial für die Weltwirtschaft auf als Zollkriege. Wenn auf diesem Weg fortgeschritten wird, gibt es nur Verlierer und droht auf lange Zeit ein enormer volkswirtschaftlicher Schaden.