Fast alle Menschen haben ältere Verwandte, die das Internet und digitale Angebote meiden. Das wird immer mehr zum Problem, da es immer weniger analoge und stattdessen mehr digitale Vertriebswege und Dienstleistungen gibt. Das ist auch im Finanzsektor der Fall. In den letzten Jahren haben Banken einen großen Anteil ihrer Filialen geschlossen. Sie setzen verstärkt auf Online-Banking. Für Menschen mit Sehbehinderungen oder mit kognitiven Einschränkungen sowie für ältere Personen kann das jedoch eine Hürde sein. Damit alle auch am digitalen Leben teilhaben können, hat der Gesetzgeber das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) beschlossen. Es gilt ab dem 28. Juni 2025. Bis dahin müssen Produkte, Dienstleistungen und Apps digital barrierefrei sein.
Hintergrund des Gesetzes ist die EU-Richtlinie 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (European Accessibility Act, EAA). Die Europäische Union verfolgt mit der Richtlinie das Ziel, eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen.
Produkte und Dienstleistungen, die das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz umfasst
Das Gesetz gilt für Produkte und Dienstleistungen, die ab dem 28. Juni 2025 in Verkehr gebracht beziehungsweise angeboten werden.
Unter die Produkte fallen:
- Hardwaresysteme einschließlich Betriebssysteme
- Selbstbedienungsterminals: Zahlungsterminals, Geldautomaten, Fahrausweisautomaten, Check-in-Automaten, Selbstbedienungsterminals zur Bereitstellung von Informationen
- Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für Telekommunikationsdienste oder für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten verwendet werden
- E-Book-Lesegeräte.
Für folgende Dienstleistungen gilt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz:
- Telekommunikationsdienste
- Elemente von Personenbeförderungsdiensten: Webseiten, Apps, elektronische Tickets und Ticketdienste, Bereitstellung von Verkehrsinformationen, interaktive Selbstbedienungsterminals
- Bankdienstleistungen für Verbraucher
- E-Books und hierfür bestimmte Software
- Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr.
Im Bankensektor gehören zu den Produkten vor allem Geldautomaten und zu den Dienstleistungen unter anderem Kreditverträge, Zahlungsdienste, mit Zahlungskonten verbundene Dienste und E-Geld.
Was bedeutet digitale Barrierefreiheit?
Eine Rampe vor der Eingangstür reicht heute nicht mehr aus, denn viele Dienstleistungen werden digital angeboten. Doch was bedeutet Barrierefreiheit in der digitalen Welt?
Eingeschränkt sind dort vor allem Menschen mit Sehbehinderungen, aber auch kognitiv eingeschränkte Personen und ältere Menschen. Um digitale Angebote zu nutzen, können sich Sehbehinderte Internetseiten vorlesen lassen oder mit speziellen Tools in Braille-Schrift übersetzen lassen. Hier gibt es allerdings oft Hürden. Setzen Websitebetreiber zum Beispiel sogenannte Captchas ein, kommen Lesehilfen an ihre Grenzen. Captchas sollen mit Hilfe eines kurzen, manuell auszuführenden Online-Tests feststellen, dass man kein Roboter ist. Wer Captchas einsetzt, um menschliche Besucher:innen von Spambots zu unterscheiden, sollte sich daher Lösungen einfallen lassen, wie auch Sehbehinderte als Mensch erkannt werden können. Auch Zwei-Faktor-Authentifizierungen könnten je nach Ausgestaltung Personen mit Behinderungen von der Dienstleistung ausschließen.
Betroffene Websites müssen, um barrierefrei zu sein, auch einfache Sprachversionen anbieten. Maßstab ist hier das leicht verständliche Niveau B2 nach dem internationalen Referenzrahmen für Sprachkenntnisse.
Was Barrierefreiheit konkret bedeutet, hat das Ministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in einer Verordnung festgelegt.
Insbesondere für Banken gibt es viele Aufgaben
Bankdienstleistungen benötigen alle Menschen. Daher ist es besonders wichtig, dass sie auch für alle nutzbar sind. Gleichzeitig bestehen im Online-Banking aber auch sehr hohe Sicherheitsanforderungen, wodurch sich viele zusätzliche Barrieren ergeben. Identifizierungs- und Authentifizierungsmethoden sowie elektronische Signaturen müssen künftig auch für Menschen mit Einschränkungen wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sein.
Sofern Zahlungsdienstleister elektronische Merkblätter auf ihren Internetseiten verwenden, müssen sie diese spätestens am 28. Juni 2025 in einer barrierefreien und leicht zugänglichen Weise bereitstellen.
Zu denken ist aber auch an Einwilligungen, zum Beispiel in die Verarbeitung von personenbezogenen Daten. Auch solche Einwilligungserklärungen und auch deren Widerruf müssen barrierefrei möglich sein.
Bei der Umsetzung des BFSG ist auch der Datenschutz zu beachten
Wie kann die Barrierefreiheit umgesetzt werden, insbesondere wenn gleichzeitig Sicherheitsanforderungen beachtet werden müssen? Eine naheliegende Lösung wäre, Kundenprofile von Menschen mit Einschränkungen zu kennzeichnen und für diese dann spezielle Erleichterungen für die Bedienung von Apps und Websites zu schaffen. Doch hier rückt der Datenschutz in den Fokus. Angaben zu gesundheitlichen Einschränkungen sind nämlich Gesundheitsdaten, die nach der DSGVO besonders geschützt werden müssen. Solche Daten dürfen eigentlich nur in bestimmten Konstellationen verarbeitet werden, etwa im Gesundheitswesen oder Sozialbereich. Ansonsten ist eine Einwilligung des Betroffenen erforderlich, die ebenfalls den strengen Anforderungen der DSGVO genügen muss. Auch Berechtigungskonzepte müssten angepasst werden.
Wenn das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nicht umgesetzt wird, drohen Sanktionen
Hersteller müssen die Übereinstimmung ihrer Produkte mit den Barrierefreiheitsanforderungen nachweisen. Bevor die Produkte in Verkehr gebracht werden, bedarf es einer EU-Konformitätserklärung und einer CE-Kennzeichnung des Produkts.
Produkte und Dienstleistungen unterliegen einer Marktüberwachung. Kommt die Marktüberwachungsbehörde zum Ergebnis, dass Barrierefreiheitsanforderungen nicht erfüllt sind, kann sie Produkte aus dem Verkehr nehmen lassen oder die Dienstleistung untersagen. Erhebliche finanzielle Schäden können die Folge sein.
Außerdem sieht das BFSG bei Verstößen Bußgelder vor. Die Marktüberwachungsbehörde wird nicht nur von Amts wegen tätig. Verbraucher:innen und anerkannte Verbände können beantragen, dass ein Verfahren gegen einzelne Wirtschaftsakteure eingeleitet wird.
Für die Umsetzung sollten Unternehmen ausreichend Zeit einplanen
Die Umsetzung des BFSG ist keine leichte Aufgabe für Unternehmen. Hierfür ist innerhalb der Organisation eine Stelle einzurichten, die die Einhaltung der Pflichten aus § 14 BFSG überwacht. Diese Aufgabe kann zum Beispiel die Compliance-Funktion oder die Abteilung für Produkt-Monitoring übernehmen.
Was die Umsetzung des Gesetzes erschwert: Einerseits ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz selbst nicht „barrierefrei“, sondern an einigen Stellen auslegungsbedürftig. Andererseits sind strenge Datenschutzanforderungen zu beachten, da Informationen über körperliche oder altersbedingte Einschränkungen sensible Gesundheitsdaten sind. Zusätzlich sollten Unternehmen ihre technischen Kapazitäten im Blick haben. Wenn die IT-Landschaften schon älter sind, es in der Vergangenheit zu Fusionen oder sonstigen Zusammenschlüssen kam, oder wenn ältere Programmiersprachen verwendet wurden, sollte das in der Umsetzungsplanung berücksichtigt werden.
Unternehmen sollten in jedem Fall für die Umstellung genügend Zeit einplanen und multidisziplinäre Projektteams bilden, in denen IT-Expert:innen aus verschiedenen Einheiten sowie Datenschutzexpert:innen zusammenkommen.
Noch mehr Einblicke in das Thema geben unsere Experten im Podcast auf KPMG Law on air.