„Responsible business“ statt ESG?
Klar ist: Diese Gemengelage ist für Unternehmen komplex zu navigieren. Den Druck stark divergierender Stakeholder-Anforderungen merkt auch die Wall Street. ESG gilt dort mittlerweile als „dirty word“. Die Abkürzung wird in Geschäftsberichten zunehmend ersetzt, beispielsweise durch „responsible business“, also verantwortungsvolles Wirtschaften. Das adjustierte Wording soll dazu führen, interne Veränderungsprozesse nicht zuletzt aufgrund regulatorischer Anforderungen vorantreiben zu können, ohne in der Öffentlichkeit unnötig Angriffsfläche zu bieten.
Welche Kritik berechtigt ist
Die Entwicklungen machen eine differenzierte Betrachtungsweise der Angriffe umso wichtiger. Vorab: Es steht fest, dass manche Kritik an der Verwendung des Begriffs valide ist. Unter dem ESG-Banner betreiben Unternehmen beispielsweise Greenwashing. Sie schmücken sich mit grünen Nachhaltigkeitsprojekten, um Kunden zu täuschen. Niemand bestreitet Auswüchse rund um derartige „Mogelpackungen“. ESG-Ratings gehören nachjustiert, Betrug gehört sanktioniert.
Risiken vorbeugen, statt auf akute Krisen reagieren zu müssen
Relevanter ist meiner Ansicht nach aber der Fokus auf die Vogelperspektive – nicht nur sprichwörtlich. Denn von oben werden auch Kritikern Ausmaß und Wechselwirkungen der nachhaltigen Transformation deutlich. Hier fließen geopolitische, ökonomische und soziale Strömungen zusammen. Man erkennt beispielsweise, dass Klimaschutz auf hochindustrialisierten Kontinenten den globalen Süden langfristig weniger anfällig für Umweltkatastrophen macht und somit direkter Einfluss auf Migrationsbewegungen möglich ist. Man erkennt, dass Unternehmen mit divers aufgestellten Teams dank neu integrierter Blickwinkel ganz neue globale Wertschöpfungsketten kreieren. Man erkennt, dass die Sicherheit internationaler regulatorischer Rahmen innovationsfördernd ist. Und man erkennt, dass sich diejenigen Unternehmen, die ohne gesetzliche Vorschriften nachhaltige Neuausrichtungen implementiert haben, als Gewinner herauskristallisieren.
„ESG will ich nicht“ oder „ESG betrifft mich nicht“? Das ergibt keinen Sinn
Der Blick von oben zeigt letztlich, dass die Komponenten E, S und G nicht nur eng miteinander verknüpft sind, sondern sich gegenseitig bedingen und aufeinander aufbauen. Es geht demnach nicht darum, die Frage „ESG – ja oder nein“? zu beantworten. Sich diese Frage zu stellen, ergibt genauso wenig Sinn wie die Aussage „ESG betrifft mich nicht“. Der nachhaltige Wandel betrifft jeden. Und das ist gut so. Es geht darum, das, was den Begriff mit Leben füllt, als Chance zu begreifen und proaktiv zu gestalten.
Auch wenn der Begriff wegfällt: Die Transformation geht voran
Für messbaren Erfolg ist indes langfristigeres Denken unerlässlich. Salopp ausgedrückt: Etliche ESG-Investitionen werden sich nicht berechenbar am übernächsten Dienstag amortisiert haben. Sie sind perspektivisch der womöglich größte Werthebel unserer Zeit. Das wiederum ist übrigens auch der Wall Street bewusst, die, wie berichtet, aktuell von lautstarken Interessengruppen getrieben auf den ersten Blick teils zurückrudert. Börsennotierte Unternehmen streichen den Begriff ESG aber lediglich in der öffentlichen Kommunikation. Das ist PR-Strategie. Inhaltlich bleiben die meisten Unternehmen auf Kurs.
Entwickeln, lenken und profitieren – oder womöglich den Anschluss verlieren
Es ist daher ein Irrglaube, dass die Transformation wachstumsfeindlich ist. Im Gegenteil: Existenzbedrohend sind künftig lediglich starre Verweigerungshaltungen. Wer nicht mitmacht, wird auf Sicht schlichtweg den Anschluss verlieren – als Unternehmen, als Staat, als Gesellschaft. Und das liegt nicht an ESG-Beratern wie mir, nicht an Klimawissenschaftlern, nicht an Sozialforschern, nicht an Brüssel. Die nachhaltige Transformation an sich braucht glücklicherweise keine Werber, Handelsvertreter oder Propagandisten. Sie ist schon da, auch wenn das manch einer noch nicht wissen oder wahrhaben will. ESG-Akronym hin oder her: Gehen wir den Wandel gemeinsam an.
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