Eine Geschäftsfrau steht im Besprechungsraum und schaut durch ein Fenster nach draußen.

Diese neuen Governance-Aufgaben kommen jetzt auf Unternehmen zu

Nadine-Lan Hönighaus, Head of Governance im EMA ESG Hub, im Interview zum Megatrend ESG.

Was hinter den ersten beiden Buchstaben beim Megatrend ESG steckt, ist einfach zu verstehen: Das E steht für Environmental, das S für Social. Das G dagegen, die Governance, ist für viele weniger griffig. Aber es gehört aus gleich mehreren Gründen in der Reihenfolge der Buchstaben eigentlich nach ganz vorne. Das sagt Nadine-Lan Hönighaus, Partnerin und Governance-Expertin bei KPMG in Deutschland. Im Interview erklärt sie die wachsende Bedeutung der Governance im ESG-Kontext – für die Unternehmensorganisation, für Aufsichtsräte, für Vorstände, für Stakeholder.

Frau Hönighaus, Sie sagen: Statt ESG müsste es eigentlich GES heißen. Was meinen Sie?

Bei der Governance im Sinne der Gesamtheit an Regeln, nach denen ein Unternehmen geführt und betrieben wird, spielt heute Nachhaltigkeit eine ganz entscheidende Rolle. Das gilt für Umweltthemen ebenso wie für soziale Themen. Daher wäre es eigentlich passender, von GES statt ESG zu sprechen und die Governance allen Sachthemen voranzustellen.

Die Governance quasi als Rückgrat von Unternehmen?

Ja, die Governance ist die Basis, um Risiken und Chancen umfassend zu betrachten und zukunftsfähige Entscheidungen treffen zu können. Das betrifft auch Prozesse und Abläufe der Berichterstattung zu Nachhaltigkeitsinformationen. Während Unternehmen früher freiwillig Nachhaltigkeitsinformationen bereitstellten und dabei viel Gestaltungsspielraum hatten, wird künftig eine große Zahl an Unternehmen nach einheitlichen, verbindlichen Standards berichten müssen. Nachhaltigkeitsthemen wie Klimawandel haben direkte finanzielle Auswirkungen auf Unternehmen, daher sind Informationen zu Nachhaltigkeit für den Finanzmarkt ebenso relevant wie Finanzdaten. Wir werden eine neue Ernsthaftigkeit der Nachhaltigkeitsberichterstattung erleben.

Was heißt das genau?

Mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) werden neue Berichtspflichten über nachhaltigkeitsbezogene Governance-Aspekte etabliert, so beispielsweise die Pflicht, über die Rolle der Führungsgremien in Bezug auf Nachhaltigkeitsbelange sowie die Unternehmensethik und -kultur zu informieren oder nachhaltigkeitsbezogene Angaben zu unternehmerischen Kontrollsystemen offenzulegen. Der Gesetzgeber erhofft sich, dass dadurch über die Märkte – insbesondere die Kapitalmärkte – infolge der höheren Transparenz Druck auf die Unternehmen zu nachhaltigerem Handeln aufgebaut wird. Entscheidungsgremien werden folglich damit konfrontiert, dass das Thema Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle für das Geschäftsmodell und die Unternehmensstrategie spielt.

Welche Praxis-Auswirkungen gibt es außerdem?

Die erweiterten Berichterstattungspflichten zur Nachhaltigkeit machen einen entsprechenden Ausbau der Governance-Systeme erforderlich, insbesondere zu Datenerhebung und Berichterstattung. Zuständigkeiten müssen neu festgelegt und entsprechende sachliche und personelle Ressourcen auf- und ausgebaut werden. Des Weiteren werden insbesondere durch die (geplante) Gesetzgebung zur Wertschöpfungskette ausdrücklich Pflichten zur Governance formuliert, um Menschenrechte und Umwelt besser zu schützen. Schließlich adressiert auch die Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex von 2022 Nachhaltigkeitsaspekte bei der Ausgestaltung der unternehmerischen Kontrollsysteme. Unternehmensverantwortliche müssen erforderliche Vorbereitungs- und Umsetzungsmaßnahmen ergreifen – und das idealerweise in einem Setting, in dem relevante Stakeholder eingebunden werden und Optionen gemeinsam diskutiert werden.

Grundsätzlich ist Governance für Unternehmen ja nicht neu und auch Nachhaltigkeit hat dabei bisher schon eine Rolle gespielt. Warum sollte die Governance jetzt in den Fokus rücken?

Das hat mehrere Gründe. Zum einen achten mittlerweile alle Stakeholder auf robuste Governance-Strukturen, denn sie geben Aufschluss darüber, ob eine Organisation letztlich so aufgestellt ist, dass sie ein geleistetes Nachhaltigkeitsversprechen auch langfristig halten kann. Kapitalmarkt, Arbeitnehmer, Verbraucher und zivilgesellschaftliche Organisationen fordern hier klare Verantwortung und Transparenz mittels konkreter, nachvollziehbarer und vergleichbarer Informationen statt vager Beschreibungen. Der Vorstand muss daher nicht nur seinen gesteigerten Organisationspflichten in Bezug auf die Governance-Struktur nachkommen, sondern ist auch gefordert, diesbezüglich eine klare externe und interne Informationsstrategie zu entwickeln und zu implementieren.

Und zum anderen?

Selbst diejenigen Unternehmen, die bei der Governance schon fortschrittlich waren, merken inzwischen, dass die Komplexität der Themen und die Geschwindigkeit, mit der Unternehmen Lösungsansätze dazu erarbeiten müssen, deutlich zunimmt. Entscheider:innen stoßen an Grenzen. Im Unternehmen ist Schwarmintelligenz gefragt, um das gesamte Risiko- und vor allem Chancenportfolio strukturell im Blick behalten zu können. Daher ist es ganz entscheidend, beim Governance-Modell auch die Umsetzungsstruktur von Nachhaltigkeit unterhalb des Vorstands unter die Lupe zu nehmen, sozusagen das ESG-Betriebsmodell.

Ein Betriebsmodell?

Es geht um die Frage: Wer sollte im Unternehmen sinnvollerweise welche Aufgaben zu ESG übernehmen? Die Zeiten, in denen sich eine zentrale Nachhaltigkeitseinheit um alles gekümmert hat – von der Berichterstattung bis zum Corporate Volunteering – sind definitiv vorbei. Das zentrale Nachhaltigkeitsteam muss mehr Raum haben für seine strategische Rolle im Unternehmen, operative Aufgaben in größerem Umfang als bisher an andere Einheiten abgeben. Oft berichten die Einheiten inzwischen direkt an den CEO. Und das ist gut so.

Nicht wenige fragen sich jetzt aber womöglich: Lohnt sich der Mehraufwand? Welche Vorteile bietet ein Governance-Upgrade Richtung mehr Nachhaltigkeit?

Um Nachhaltigkeit adäquat berücksichtigen zu können, müssen die Rollen und auch die Art des Dialogs im Unternehmen überdacht werden. Wir sehen, dass bei erfolgreichen Unternehmen starre Strukturen und Abläufe aufgebrochen werden, dass die Zusammenarbeit beweglicher und dialogischer wird. Das heißt: Strategien, von Klima bis Diversity, werden intern diskutiert, abgeklopft, hinterfragt. Zielkonflikte müssen abgewogen werden. Das ist ein Zeichen des Wandels, ein Zeichen für Sensibilisierung. Und es ist der Beginn eines Lernprozesses für alle, die an diesem Dialog beteiligt sind.

Das klingt zeitaufwendig…

Das mag so klingen, ist es aber in der Gesamtsicht nicht, denn die Einbindung von Funktionen und Geschäftsbereichen im Vorfeld sorgt für Akzeptanz und Ownership bei der Umsetzung. Das spart dann Zeit. Aus betroffenen Einheiten werden beteiligte Einheiten, die Umsetzung von einzelnen Maßnahmen zur Zielerreichung fällt leichter und macht mehr Freude. Vielstimmigkeit bringt neue Perspektiven – und das bringt Wettbewerbsvorteile. Die Erfahrung zeigt, dass mit einer neuen Denkweise auch das Ambitionslevel bei der Nachhaltigkeit steigt. Bei allem Dialog ist jedoch eines wichtig: Die Zahl der Akteure im Unternehmen erhöht sich und deshalb sind klare Zuständigkeiten, also eine gute Governance, wichtiger denn je.

Wie merken Unternehmen in der Praxis denn überhaupt, dass ihre Governance-Struktur verbessert werden sollte? Melden sich Unternehmen, weil sie etwas „nicht funktioniert“?

Mit Bezug auf Nachhaltigkeit und Governance gibt es durchaus ganz konkrete Fragen, mit denen Unternehmen auf uns zukommen. Dies betrifft zum Beispiel die Berücksichtigung von ESG im Risikomanagement oder auch die Frage nach der Einrichtung eines Nachhaltigkeitsausschusses im Aufsichtsrat. Insgesamt ist Governance zudem immer Teil von umfassenden Transformationsprojekten oder spielt eine Rolle, wenn ein Unternehmen seine gesamte Berichterstattung neu ausrichten möchte. Sobald ein Strategiewechsel ansteht, müssen Überlegungen zur Governance und Umsetzung Teil der Planung sein, sonst wird die beste Strategie nie im Unternehmen verankert und gelebt werden können. Der Aufsichtsrat berät den Vorstand bei der Planung, überwacht deren Umsetzung und muss sich daher auch mit den Nachhaltigkeitsaspekten auseinandersetzen.

Warum?

Die CSRD oder der Deutschen Corporate Governance Kodex sehen nicht nur eine umfassendere Berichterstattung oder ein erweitertes Verständnis von Risiken und Sorgfaltspflichten vor. Der Kernpunkt ist aus meiner Sicht, dass das Wirtschaften neu gedacht werden soll. Nachhaltigkeit soll essenzieller Bestandteil jeder Unternehmensstrategie sein, sie wird zu einem Kernelement des Unternehmens. Und was die Strategie, das Geschäftsmodell und die Sorge für den Fortbestand eines Unternehmens betrifft, ist die Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat heute schon klar: Der Vorstand ist für Entwicklung und Umsetzung verantwortlich, der Aufsichtsrat für die Überwachung. Letzteres schließt auch die Beratung des Vorstands ein.

Was sind die neu hinzukommenden Aspekte?

Die zusätzlichen Inhalte und Stakeholder sowie eine neue Dimension der Betrachtung. Neben dem finanziellen Erfolg muss eine Strategie beispielsweise auf die Erreichung des 1,5-Grad-Klimazieles einzahlen. Außer den klassischen Stakeholdern wie Kunden oder Investoren haben auch Politik, Wissenschaftler oder zivilgesellschaftliche Akteure ein berechtigtes Interesse an der Unternehmensentwicklung…

…weil es um mehr geht als das, was dem Unternehmen unmittelbar nützt oder schadet?

Ein Unternehmen muss auch darauf schauen, welche Auswirkungen es selbst auf Menschen und Umwelt hat. Das nennt man doppelte Materialität. Die Rollen von Vorständen und Aufsichtsräten verändern sich also an sich nicht, sie werden nur inhaltlich noch anspruchsvoller. Ob Umwelt, Menschenrechte oder Lieferketten: Aufsichtsräte müssen die richtigen Fragen zu allen wesentlichen Nachhaltigkeitsbereichen stellen können und passende Anreizsysteme für das Management schaffen. Und Vorstände brauchen Kenntnisse, die vor zehn Jahren noch nicht gefragt waren.

Was ist nun der nächste entscheidende Schritt?

Die Regulatorik gibt einen klaren Rahmen vor – nun muss die Transformation, der Kulturwandel, Fahrt aufnehmen. Falls noch nicht geschehen, ist es höchste Zeit, nötige Veränderungen im Unternehmen zu identifizieren und anzugehen. Ich bin davon überzeugt, dass Unternehmen angestoßen durch Regulierung einen Weg beschreiten werden, der viel mehr bringen wird als das reine Erfüllen von gesetzlichen Vorgaben. Kooperative und dialogische Entscheidungsprozesse machen aus Unternehmen sowie ebenso anderen Organisationen intelligente und bewegliche Systeme. Sie werden dadurch resilienter, effizienter und auch attraktiver, vor allem für Mitarbeitende oder Talente am Arbeitsmarkt. Es wird immer wichtiger, dass Entscheidungen nicht mehr in Silos getroffen werden. Das ist in vielen Wirtschaftsbereichen schon Normalität. Nun institutionalisieren wir dies auch beim Thema Nachhaltigkeit.