Direktvertrieb: Die Zukunft der Automobilindustrie

In der Autobranche geht der Trend zum Direktvertrieb. Chancen und Anforderungen.

Ein neues strategisches Denken in einer durchweg digitalisierten Welt ist im Vertrieb vieler Automobilhersteller (OEMs) nicht mehr nur eine Zukunftsvision, sondern steht aufgrund der Relevanz und Notwendigkeit bereits seit einiger Zeit im Fokus der Automobilindustrie. Im Mittelpunkt steht dabei das Thema Direktvertrieb. Einige Hersteller haben dieses Vertriebsmodell nur für bestimmte Produkte eingeführt, während andere sich auf bestimmte geografische Märkte konzentriert haben.

Aber was genau ist Direktvertrieb und was bedeutet dieser für die Unternehmen? In einer Klardenker-Reihe werden wir die Beweggründe darstellen, warum dieser strukturelle Wandel für alle beteiligten Stakeholder ein bedeutender Gamechanger ist und welche Anpassungen für die Einführung des Direktvertriebs erforderlich sind, von den ersten strategischen Überlegungen bis zur Implementierung der Verkaufsprozesse.

Wie funktioniert der Direktvertrieb?

Die Umstellung auf den Direktvertrieb ist eine bedeutende Veränderung des traditionellen dreistufigen Vertriebsmodells in der Branche (linkes Bild). Im traditionellen Modell tritt der Händler als eigenständiger Unternehmer auf.

Dies ändert sich bereits mit der Umstellung auf das Agentenmodell (mittleres Bild). Hierbei treten die OEMs direkt in Interaktion mit den Kund:innen und übernehmen die Verantwortung für den gesamten Verkaufsprozess. Die Händler bleiben weiterhin als primäre Ansprechpartner für die Kund:innen bestehen, allerdings agieren sie nicht mehr als direkte Vertragspartner, sondern als vermittelnde Instanzen, die Handelsvertreter bzw. Agent genannt werden.

Die Agenten stellen weiterhin einen hohen Servicegrad sicher, indem sie den Kund:innen beratend zur Seite stehen und Probefahrten oder ähnliche Services anbieten. Die Kund:innen können per Online-Sales-Plattform bestellen und dabei entscheiden, ob sie dies eigenständig oder unter Anleitung eines Agenten machen möchte. Nach erfolgreicher Bestellung kann das Fahrzeug beim Agenten abgeholt oder durch den Agenten nach Hause geliefert werden, wenn eine solche Vereinbarung mit dem Hersteller besteht. Damit ist das Agentenmodell eine Art Zwischenlösung zwischen dem traditionellen Händlermodell und dem Direktvertriebsmodell (rechtes Bild).

Abbildung: Vergleich zwischen dem traditionellen Vertriebsmodell, dem Agentenmodell und dem Direktvertriebsmodell

 

Im Direktvertriebsmodell – auch Direct-to-Customer-Modell (D2C) genannt – werden die Einzelhändler bzw. Agenten durch sogenannte Brandstores ersetzt. Diese gehören dem OEM und bieten weiterhin die Serviceleistungen eines Agenten an. Allerdings haben sie keine unternehmerischen Entscheidungsbefugnisse oder Umsatzziele mehr. Stattdessen liegt der Fokus darauf, den Kundenservice und die Markenpräsenz zu stärken, ohne dass die Brandstores eigene Gewinnziele verfolgen.

In den Brandstores kann sich die Kundschaft einen Eindruck von der Marke und vom Fahrzeug machen. Hat beides sie überzeugt, wird das Fahrzeug anschließend in der Regel über eine Online-Sales-Plattform bestellt und dann über den Brandstore ausgeliefert oder direkt nach Hause zum Kunden oder zur Kundin gebracht.

Welche Änderungen bringt die Umstellung des Vertriebs mit sich?

Der Wechsel von einem traditionellen Modell sowohl auf das Agenten- als auch auf das D2C-Modell führt zu grundlegenden Veränderungen in vielen Unternehmensbereichen. Zur Veranschaulichung wird gern das Bild eines Eisbergs gebraucht: Neben den sichtbaren Änderungen aus der Händlerperspektive sind auch übergreifende Anpassungen notwendig, die auf den ersten Blick nicht zu sehen sind.

Hierzu gehören unter anderem die Rollen und Verantwortlichkeiten, Anpassungen in der Prozess- und Datenebene und Änderungen in den IT-Systemen. Der Direktvertrieb ist mit einer stärkeren Digitalisierung verbunden. Ebenso sind relevante rechtliche Rahmenbedingungen hinsichtlich Direktvertrieb zu berücksichtigen, die wir in unserer Reihe genauer betrachten werden.

Welche Vorteile hat der Direktvertrieb?

Die Vorteile, den Vertrieb auf ein digitales D2C-Modell umzustellen, sind für die Hersteller offenkundig:

  • Zentrale Preissetzung und Rabattsteuerung können Preiskonsistenz gewährleisten.
  • Konsistente Preise erhöhen bei der Kundschaft die Transparenz und Sicherheit.
  • Da die Vertriebskosten aus den traditionellen Handelsstrukturen wegfallen (einer der höchsten Kostentreiber), lassen sich höhere Margen realisieren.
  • Der direkte Kundenzugang und die Kontrolle über alle Online- und Offline-Kanäle gewährleisten eine einheitliche Customer Journey und Markenwahrnehmung.
  • Indem die Kundendaten direkt erhoben und genutzt werden, ergeben sich weitere Wertschöpfungspotenziale, die die Hersteller erschließen können – zum Beispiel Abonnement-Lösungen.

Welche Varianten existieren in Deutschland?

Im deutschen Automobilmarkt zeigt sich eine interessante Tendenz: Die OEMs sind dem Agentenmodell wesentlich aufgeschlossener als dem vollständigen D2C-Modell. Ihr Fokus liegt darauf, das bestehende Händlernetzwerk optimal zu nutzen, während neue Marktteilnehmer in der Branche eher das D2C-Modell als Strategie bevorzugen. Bei dieser Entscheidung spielen auch finanzielle Überlegungen eine wichtige Rolle, da der Aufbau eines Händlernetzwerks hohe Investitionen erfordert.

Welche Herausforderungen sind im Zuge der Implementierung zu überwinden?

Ein Vertriebsmodell, bei dem der Hersteller das Fahrzeug direkt an den Kunden oder die Kundin verkauft bzw. über Agenten vermittelt, bringt zahlreiche Herausforderungen mit sich. Damit es erfolgreich umgesetzt werden kann, gilt es, eine strategische Vorgehensweise zu definieren und Kompetenzen aufzubauen, die derzeit noch bei den Händlern liegen. Dies erfordert bedeutende Investitionen.

Dennoch ergeben sich bei einer erfolgreichen Umsetzung erhebliche Vorteile sowohl für die Kundschaft als auch für die OEMs und Händler. Die Vorteile und Herausforderungen – insbesondere mit Blick auf den deutschen Markt – werden wir in den kommenden Artikeln dieser Reihe darstellen. Hierbei werden wir uns auf folgende essenzielle Fragen konzentrieren:

  1. Was sind die entscheidenden Anreize für die OEMs, diesen Wandel anzustreben?
  2. Warum wird diese Umstellung als revolutionär für OEMs betrachtet? Welche Vorteile und Potenziale sind damit verbunden? Wie unterscheiden sich die verschiedenen Direktvertriebsmodelle voneinander?
  3. Welche Auswirkungen hat dieser Wandel auf Kund:innen und Händler? Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus?
  4. Welche Planung ist seitens der OEMs erforderlich, um ein digitales Direktvertriebsmodell anzugehen?
  5. Wie wirkt sich die Umstellung auf die Customer Journey aus, mit Blick auf die Touchpoints und Operations?
  6. Wie wird Direct Service in die Geschäftsabläufe integriert? Welche Strategien werden angewandt, um den Kundenservice zu optimieren, und welche Schritte sind erforderlich?
  7. Wie werden ESG-Prinzipien (Environment, Social, Governance) in den Direktvertrieb einbezogen? Welche konkreten Schritte sollte ein Unternehmen übernehmen, um sicherzustellen, dass der Vertrieb nachhaltig und sozial verantwortungsbewusst ist?

Die eingehende Beantwortung dieser Fragen führt zu einem ganzheitlichen Verständnis der Bedeutung des Direktvertriebs und seiner umfangreichen Möglichkeiten.

 

Co-Autoren: Albion Loshaj, Hilal Bolat und Luca Scholz