ESG: Grüne Gärten auf Hochhäusern in einer Stadt

Interview: Große ESG-Umfrage liefert überraschende Ergebnisse

Mit Video: Was die Studie „Nachhaltig steuern“ über deutsche Unternehmen aussagt.

ESG transformiert die Wirtschaft. Die Relevanz von Umwelt- und Klimaschutz, sozialen Aspekten wie Diversität und Inklusion sowie verantwortungsbewusster Unternehmensführung nimmt deutlich zu. In unserer Studie „Nachhaltig steuern – ESG Management and Steering“ haben wir untersucht, wie vier bedeutende Branchen auf die Veränderungen durch den Wandel vorbereitet sind. Goran Mazar, Partner und EMA & German Head of ESG and Automotive, und Yannik Michels, Partner, Consulting, ESG & Finance Transformation, haben die Studie beim KPMG Zukunftsgipfel vorgestellt. Im Klardenker-Interview sprechen sie über die bemerkenswerten Umfrageergebnisse.

Herr Mazar, Herr Michels, Sie haben die Studie „Nachhaltig steuern“ veröffentlicht. Im Fokus sind die Automobilindustrie, die Fertigungsindustrie, die Transport- und Logistikwirtschaft und der Infrastrukturmarkt. Kompakt vorab: Worum ging es genau und was sind die Kernerkenntnisse?

Yannik Michels: Unsere Studie untersucht die Ausrichtung von Unternehmen in Deutschland hinsichtlich der ESG-Themen. Dabei wurden 200 ESG-Verantwortliche aus den vier Industrien befragt. Die Ergebnisse basieren auf der Selbsteinschätzung der Unternehmen und wurden anschließend von unseren ESG-Experten eingeordnet. Die Studie bietet einen Überblick über den aktuellen Stand der ESG-Transformation in Unternehmen und beleuchtet Herausforderungen und Chancen im Zusammenhang mit nachhaltiger Unternehmenssteuerung, Organisationsstrukturen, Reporting sowie Technologie- und Datenlandschaft.

Goran Mazar: Die Studie zeigt, dass 47 Prozent der Unternehmen die Wettbewerbsvorteile erkennen, die sich aus dem proaktiven Management von Chancen und Risiken im Bereich der ESG-Themen ergeben. Die Ergebnisse belegen auch, welchen Stellenwert die ESG-Themen bereits heute haben: 63 Prozent der befragten Unternehmen haben nachhaltigkeitsrelevante Themen bereits in der obersten Management-Ebene verankert. Es gibt jedoch Herausforderungen bei der Umsetzung. Zwei von drei Unternehmen (67 Prozent) betrachten die Vereinbarkeit von ESG-Aspekten mit der Geschäftsstrategie als größte Herausforderung. Zusätzlich fehlt fast jedem zweiten der Unternehmen (48 Prozent) ein durchgängiges System für ein umfassendes ESG-Reporting. Verbesserte Systeme, Prozesse und Strategien sind erforderlich, um ESG effektiv zu integrieren und ein umfassendes ESG-Reporting zu ermöglichen.

Welche Besonderheiten und Trends sind in den Branchen auszumachen?

Yannik Michels: Insgesamt geben fast zwei Drittel der Teilnehmenden (64 Prozent) an, dass der Klimawandel und Umweltschäden einen hohen oder sehr hohen Einfluss auf ihre Nachhaltigkeitsinitiativen haben und somit einen maßgeblichen Treiber darstellen. In der Fertigungs- und Automobilindustrie wird diesen Treibern jedoch eine geringere Bedeutung von 46 Prozent beziehungsweise 56 Prozent zugeschrieben. In diesen Branchen erhalten Kundenerwartungen und -bedürfnisse eine größere Gewichtung und werden von 80 Prozent der Befragten als wesentlicher Treiber für Nachhaltigkeitsinitiativen identifiziert. Auch hinsichtlich der Erreichung der ESG-Ziele als Bestandteil der Vergütungsstruktur gibt es Unterschiede: Hier liegt die Versorger- und Infrastrukturbranche vorne, in der 20 Prozent der befragten Unternehmen ESG-Ziele in ihre Vergütungsstruktur integriert haben. In der Branche Transport/Logistik sind es hingegen nur 8 Prozent.

Hat Sie bei den Ergebnissen etwas besonders erstaunt?

Goran Mazar: Es haben sich einige überraschende Erkenntnisse offenbart. Es zeigte sich ein hohes Ambitionslevel bei gleichzeitig großen Herausforderungen in der Transformation. Es überraschte uns auch, dass viele Unternehmen noch in der Vorbereitung auf die EU-Taxonomie sind und sich noch nicht in der Umsetzung befinden. Ein weiterer erstaunlicher Aspekt war, dass die Prüfung von KPIs im Zusammenhang mit ESG-Themen durch externe Dritte bislang nur gering verbreitet ist.

Welche Aspekte bei der ESG-Transformation halten die Unternehmen für besonders herausfordernd?

Yannik Michels: Die Herausforderungen variieren nicht nur je nach Unternehmensgröße, sondern auch nach Branchenzugehörigkeit. Generell lässt sich festhalten, dass die Vereinbarkeit von ESG-Aspekten mit der Geschäftsstrategie von zwei Drittel der Unternehmen als größte Hürde erachtet wird, gefolgt von der Überwachung von Zielen sowie der Steuerung der Zielerreichung an zweiter und der Integration von ESG in etablierte Prozesse und Reporting an dritter Stelle. Dabei werden alle mit der ESG-Transformation verbundenen Herausforderungen von Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 500 Millionen Euro mit höherer Bedeutung bedacht als von Unternehmen mit niedrigerem Umsatz.

Gibt es weitere relevante sektorenbezogene Unterschiede?

Yannik Michels: Innerhalb der Sektor-Auswertung lässt sich die größte Abweichung bei der Verfügbarkeit von ESG-Daten für Ratings und Rankings feststellen: Während mehr als jedes zweite Unternehmen in der Automobilbranche diese ESG-Herausforderung als besonders bedeutsam wahrnimmt, sind es in der Infrastrukturbranche lediglich 34 Prozent. Diese Differenzen zwischen den Sektoren lassen sich auf diverse externe Faktoren zurückführen, darunter beispielsweise das unterschiedliche Marktumfeld, das öffentlich oder von privatwirtschaftlichen Stakeholdern geprägt sein kann.

Die Erarbeitung zielführender Nachhaltigkeitskennzahlen gilt als komplexe Aufgabe. Welche Schlüsse lassen sich diesbezüglich aus der Studie ziehen?

Goran Mazar: Zunächst einmal: Ja, die Schwierigkeit bei den KPIs besteht in der Tat. Die Anzahl an verfügbaren ESG-Daten erschwert das Ableiten steuerungsrelevanter KPIs aus der Strategie, was sich vor allem im Social- und Governance-Bereich abzeichnet. Während KPIs für die Steuerung von Umweltaspekten am häufigsten definiert sind, bestätigen nur 40 Prozent der Unternehmen, über Führungskennzahlen für Governance-Aspekte zu verfügen. KPIs für soziale Aspekte wurden bislang sogar nur von gut jedem dritten Unternehmen festgelegt. Folglich sollten diese zwei ESG-Komponenten stärker priorisiert werden, um auch regulatorischen Vorgaben, wie beispielsweise dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, zu genügen.

Yannik Michels: Gründe für diese ungleiche Bedeutungszuschreibung sind unter anderem das häufigere Auftreten von Umweltaspekten in der bisherigen Regulatorik. Jedoch gibt es auch in Bezug auf Umwelt-KPIs Verbesserungspotenzial: Neben Informationen rund um die Mitigation des Klimawandels sowie Angaben zu CO2-Emissionen sollten weitere Umweltaspekte wie Wasser und Biodiversität nicht außer Acht gelassen werden.

Das proaktive Management des ESG-Themenkomplexes kann Unternehmen erhebliche Wettbewerbsvorteile bringen. Wie sehen das die Umfrageteilnehmer:innen?

Yannik Michels: Fast die Hälfte der Umfrageteilnehmer stimmt dieser Aussage zu. Klar ist: Wer sich nur auf das regulatorisch vorgegebene Mindestmaß beschränkt, vergibt essenzielle Wachstums- und Profitabilitätsmöglichkeiten, die zu einem höheren Unternehmenswert führen.

Was sind den Ergebnissen zufolge die wichtigsten Handlungsfelder und wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?

Goran Mazar: Um eine aussagekräftige ESG-Strategie zu entwickeln und erfolgreich umzusetzen, ist es nicht nur wichtig, dass die obersten Führungsgremien ein klares Bekenntnis zu ESG-Themen abgeben. ESG muss auch als integraler Bestandteil der Unternehmenskultur verankert sein und von allen relevanten Entscheidungsträgern und -trägerinnen im Unternehmen gelebt und weiterentwickelt werden. Nur wenn eine eindeutige Festlegung der Top-Entscheider und -Entscheiderinnen zur Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens vorliegt, können durchsetzungsstarke Strukturen mit eindeutigen Verantwortlichkeiten und Zielsetzungen umgesetzt werden.

Haben Sie für die Unternehmen abschließend eine Ad-hoc-Empfehlung? Worauf kommt es in der Praxis jetzt besonders an?

Goran Mazar: Generell erfordert die nachhaltige Ausrichtung der Unternehmenssteuerung insbesondere ein Umdenken bei den unternehmerischen Leitungsorgangen. Das heißt, dass Entscheider:innen einen nachhaltigen ESG-Wertbeitrag in Einklang mit der Geschäftsstrategie bringen sollten, um eine Verankerung im gesamten Unternehmen zu gewährleisten und alle Abteilungen einzubinden. Insbesondere die IT-Abteilung spielt in der Umsetzung von ESG-Anforderungen eine entscheidende Rolle, da sie bei der Einführung neuer Systeme für eine Risikominimierung sorgt und Innovationspotenziale wie eine nachhaltige IT-Landschaft realisiert. Eine enge Zusammenarbeit der Fachbereiche im Transformationsprozess ist somit unabdingbar.

Danke für das Gespräch.

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