Neue ESG-Regulatorik transformiert die Wirtschaft – und der gesellschaftliche Wandel schreitet ebenfalls längst voran. Unternehmen setzen bei ihren Marketingaktivitäten beispielsweise zunehmend darauf, ihre Produkte besonders umweltfreundlich darzustellen. Denn das verspricht angesichts veränderter Kund:innenwünsche Wettbewerbsvorteile.
Nicht selten sind die Nachhaltigkeitsangaben aber unwahr. Die EU will gegen das sogenannte Greenwashing vorgehen und hat mit der Green Claims Directive 2023 einen Richtlinienvorschlag veröffentlicht. Was sind die Hintergründe – und was sind die Folgen? Barbara Scheben, Partnerin, Head of Forensic, klärt im Interview auf.
Frau Scheben, kompakt vorab: Was besagt die Green Claims Directive genau? Wie sehen Ziele und Zeitplan aus?
Die Green Claims Directive ist eine von der EU-Kommission am 22. März 2023 vorgeschlagene Richtlinie zur Bekämpfung des Greenwashings. Sie soll Konsument:innen die Gewissheit geben, dass Produkte und Dienstleistungen, die als umweltfreundlich beworben werden, auch tatsächlich umweltfreundlich sind.
Bis die vorgeschlagenen Regeln für Unternehmen verbindlich werden, wird aber noch einige Zeit vergehen: Am 12. März 2024 hat das Europäische Parlament seinen Standpunkt zum Entwurf der Green Claims-Richtlinie in erster Lesung angenommen. Die erforderliche Zustimmung durch den EU-Rat steht noch aus. Kommt es zu einer Einigung haben die Mitgliedsstaaten nach Inkrafttreten der Richtlinie 18 Monate Zeit, die Regelungen in ihr nationales Recht umzusetzen. Bis zum tatsächlichen Inkrafttreten wird es weitere zwölf Monate dauern.
Greenwashing ist häufiger in den Schlagzeilen – doch wie groß ist das Greenwashing-Problem tatsächlich?
Die EU-Kommission hat hierzu eine eigene Studie durchgeführt und dabei festgestellt, dass die untersuchten Online-Shops, Webseiten und Werbeanzeigen in 80 Prozent der Fälle umweltbezogene Angaben zu Produkten oder Dienstleistungen enthielten. Wir sprechen hier also über einen riesigen Marketingbereich.
Laut der Studie waren über die Hälfte der untersuchten Umweltangaben vage bis irreführend und sogar 40 Prozent schlichtweg substanzlos. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Das zeigt: Greenwashing ist nicht auf schlagzeilenträchtige Einzelfälle beschränkt, sondern ein flächendeckendes Problem.
Wo und wie wird außer der Irreführung von Konsument:innen durch Greenwashing noch Schaden angerichtet?
Das Thema hat mehrere Dimensionen: Im Ausgangspunkt ist es natürlich eine Täuschung der Konsument:innen, die sich oftmals gerade wegen der vermeintlichen Nachhaltigkeit bewusst für ein bestimmtes, gegebenenfalls auch höherpreisiges Produkt entscheiden. Diese Täuschung kann dann zweierlei Folgen haben: Sofern sie unbemerkt stattfindet, bleiben die großen Umweltprobleme bestehen, während die Verbraucher:innen durch den Kauf vermeintlich umweltfreundlicher Produkte ihr Gewissen beruhigen.
Wird das Greenwashing hingegen öffentlich, sinkt das allgemeine Vertrauen in die Nachhaltigkeit von Produkten, Dienstleistungen und nicht zuletzt Umweltsiegel. Und das kann sukzessiv die Nachfrage nach umweltfreundlichen Produkten senken. Das schadet dann vor allem den Unternehmen, die sich tatsächlich ernsthaft für Umweltschutz einsetzen und hierfür auch entsprechend investieren. Das heißt, ob entdeckt oder heimlich – in beiden Fällen schadet Greenwashing dem Umweltschutz. Außerdem verzerrt es den Wettbewerb: Kund:innen entscheiden sich für vermeintlich umweltfreundlichere Produkte und schädigen so ungewollt diejenigen Konkurrenzhersteller, die nicht mit irreführender oder substanzloser Werbung am Markt agieren.
Wie wirksam kann die Green Claims Directive angesichts dieser vielschichtigen Gemengelage sein?
Damit Konsument:innen verlässliche Informationen über die tatsächlichen Umweltvorteile eines Produkts oder einer Dienstleistung erhalten, sieht der Richtlinienentwurf einerseits vor, den Wildwuchs bei Umweltsiegeln und ähnlichen Labels einzuschränken. Hiervon gibt es aktuell mehr als 200 – mit sehr großen Unterschieden bei Voraussetzungen und Kontrollen, was zu Verwirrung und Misstrauen führen kann. Zukünftig sollen solche Kennzeichnungen den Regelungen des Unionsrechts unterliegen.
Für private Kennzeichnungssysteme sieht die Green Claims Directive strenge Anforderungen einschließlich einer initialen Bewertung und Pflicht zur Überprüfung vor. . Zwar gibt es auch heute bereits Kriterien für umwelt- bzw. klimabezogene Werbeaussagen; die Vorgaben der Green Claims Directive sind aber deutlich konkreter und auch strenger.
Worauf kommt es besonders an, damit die Richtlinie EU-weit so durchschlagskräftig wie möglich wird?
Inwieweit die Richtlinie Wirkung entfaltet, wird zunächst davon abhängen, wie sie von den einzelnen Mitgliedsstaaten umgesetzt wird. Hierbei gibt es durchaus Spielräume. Noch wichtiger wird aber die einheitliche Durchsetzung der Vorgaben sein.
Ein wichtiger Punkt, der in dem Vorschlag bereits enthalten ist, ist die Möglichkeit der Verbandsklage. So können beispielsweise Verbraucherschutzorganisationen selbst Klage erheben, um die Kollektivinteressen der Verbraucher:innen zu schützen. Für Unternehmen erhöht sich damit das Risiko, für Verstöße gegen die Vorgaben zur Verantwortung gezogen zu werden.
Wie haben Unternehmen und Branchenverbände auf den EU-Vorstoß reagiert?
Grundsätzlich wird das Vorgehen der EU gegen Greenwashing von den Unternehmen und Branchenverbänden offiziell begrüßt. Bei den konkreten Vorschlägen gehen die Meinungen aber auseinander. Das dürfte auch mit einer unterschiedlichen Problemwahrnehmung zusammenhängen. Wenn wir uns Studien hierzu anschauen, dann fällt etwa auf, dass der Umweltzeichen-Wildwuchs interessanterweise eher von Unternehmen als Problem wahrgenommen wird und gar nicht so sehr von den Konsument:innen. Entsprechend stoßen die EU-Vorschläge zur stärkeren Regulierung dieser Kennzeichnungssysteme bei Unternehmen eher auf Zustimmung.
Was die individuellen Werbeaussagen zur Umweltverträglichkeit betrifft, kritisieren die Konsument:innen und vor allem die Verbraucherschutzorganisationen die häufige Intransparenz und Schwammigkeit dieser Aussagen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, erscheinen die geplanten Vorgaben zur Belegbarkeit und Kommunikation solcher individuellen Umweltaussagen als sinnvoller Beitrag zu mehr Transparenz.
Entscheider:innen in Unternehmen fragen sich nun mutmaßlich: Was kommt da auf mich zu? Wie groß ist der Aufwand, wo liegen die größten Herausforderungen?
Nach der Green Claims Directive sollen Unternehmen nur solche Umweltaussagen und -zeichen verwenden dürfen, die vorab von einer unabhängigen Prüfstelle überprüft worden sind. Das führt zunächst zu hohen Initialaufwänden, da jedes Unternehmen bei Inkrafttreten der Regeln bereits analysiert haben muss, ob und welche Umweltaussagen beispielsweise auf Webseiten, Produktbeschreibungen, Verpackungen und Werbeanzeigen enthalten sind und inwieweit diese angepasst oder entfernt werden müssen. Die freiwillige Verwendung von Umweltaussagen wird insgesamt mit bürokratischem und finanziellem Aufwand einhergehen und die Schnelligkeit und Flexibilität des Marketings einschränken.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Unternehmen, die das Thema Nachhaltigkeit wirklich ernst nehmen, vergleichbare Aufwände schon heute haben – der Zusatzaufwand wird also vor allem bei denjenigen besonders hoch ausfallen, die sich heute mit mehr oder weniger unbelegten Nachhaltigkeitsbehauptungen begnügen.
Gibt es denn Unterstützungsangebote? Werden alle Unternehmen gleichermaßen betroffen sein?
Staatliche Unterstützung soll es für kleinste, kleine und mittlere Unternehmen geben. Kleinstunternehmen sind zwar grundsätzlich von den Vorgaben der Richtlinie ausgenommen, können aber den Anforderungen der Richtlinie unterfallen, wenn sie eine Überprüfung und Zertifizierung von Umweltaussagen freiwillig beantragen. Für alle anderen wird gelten: Wer den Aufwand scheut, muss zukünftig auf die Verwendung umweltbezogener Werbeaussagen verzichten.
Das heißt im Umkehrschluss: Die große Chance der Green Claims Directive ist die Stärkung der Glaubwürdigkeit?
Ja, der Wert von Umweltaussagen wird erhöht. Wer sie verwendet, trägt tatsächlich zum Umweltschutz bei. Das kann die Absätze steigern – und unlauteren Wettbewerb verringern.