Es sind außergewöhnliche Zeiten für die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen. Doch abseits der schlagzeilenträchtigen Debatten um Decoupling: Wie ist die aktuelle Geschäftslage eigentlich? Welche Trends prägen das bilaterale Verhältnis? Wie reagieren deutsche und chinesische Unternehmen auf die geopolitische und ökonomische Gemengelage? Diese Entwicklungen sollten Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger unbedingt im Blick behalten:
Prognose: Chinas Wachstumsschwäche hält an
Es gibt mehrere Anzeichen dafür, dass die chinesische Wirtschaft vor mutmaßlich länger andauernden Problemen steht. Ein maßgeblicher Einflussfaktor für die Prognose: die unbewältigte Krise im chinesischen Immobilienmarkt. Berichten zufolge existieren mindestens 70 Millionen leerstehende Neubauwohnungen in China. Etliche große chinesische Immobilienentwicklungsgesellschaften gelten als überschuldet, insbesondere die Evergrande Group, die gemäß jüngsten offiziellen Berichten 300 Milliarden Euro Schulden angehäuft haben soll – mehr als jedes andere Immobilienunternehmen weltweit.
Zur hohen Jugendarbeitslosigkeit, der Alterung der Bevölkerung sowie der in China deutlich spürbaren Folgen der Erderwärmung kommt hinzu, dass die Binnennachfrage aufgrund unsicherer Zukunftserwartungen eingebrochen ist. Jens Eskelund, der neue Präsident der EU-Handelskammer in China, hat jüngst einen wichtigen Grund für diese Entwicklung hervorgehoben: „70 Prozent des Vermögens privater Haushalte sind in Immobilien gebunden. Solange die Menschen nicht wissen, wie es mit den Immobilien weitergeht, werden sie sich im Konsumverhalten zurückhalten.“
Der hohe Verschuldungsgrad chinesischer Lokalprovinzen verhindert außerdem neue Infrastrukturprojekte und Konjunkturpakete. In den vergangenen Jahren haben die Provinzen immer wieder neue finanzielle Mittel über Grundstücksverkäufe generiert. Dies ist jetzt nicht mehr möglich.
Der fortgesetzte Abwertungstrend des Renminbis sowie der Transfer von Vermögensbeständen der Oberschicht ins Ausland – Ziele sind unter anderem Singapur, Japan oder Dubai – haben ebenfalls Auswirkungen auf die Wachstumsprognosen. Und nicht zuletzt: Die Hoffnungen auf einen nachhaltigen Aufschwung nach der Coronapandemie haben sich nicht erfüllt. Mittlerweile steht fest: Der „Rebound-Effekt“ nach dem Ende der Zero-Covid-Policy Chinas ist verpufft.
Standort China: Carve-outs, Divestments und Joint Ventures rücken in den Fokus
Vorab: Die Reputation deutscher Unternehmen in China ist weiterhin sehr gut. Das liegt am fortgesetzten Know-how-Transfer nach China, an zuverlässigen und zugleich hohen Steuerzahlungen deutscher Unternehmen und an deren vielfältigen sozialen Aktivitäten. Deutsche Unternehmen gelten überall auf der Welt als „good social citizen“. Und auch deutsche Marken und deutsche Unternehmen werden weltweit weiterhin sehr geschätzt. Die chinesischen Schriftzeichen für Deutschland bedeuten „Land der Tugend“ – auch das hilft dem Image.
Vor Ort in China ist bei deutschen Unternehmen aktuell eine Fortsetzung von Lokalisierungsstrategien der gesamten Wertschöpfungskette festzustellen – von Einkauf über Produktion und Absatz bis zu Forschung und Entwicklung sowie Finanzierung. Und es gibt eine Entkopplung international vernetzter Lieferketten.
Um Abhängigkeiten von China zu verringern, erwägen internationale Konzerne zudem neuerdings Carve-outs, also Abspaltungen des China-Geschäfts, mit anschließendem Börsengang in Hongkong oder Shanghai. Die Mehrheit der Anteile wird aber behalten, um die Geschäftsaktivitäten (vorerst) weiter steuern zu können und Ergebnisbeiträge aus dem China-Geschäft zu sichern.
Neben der Risikominimierung durch die Anteilsveräußerung an Dritte haben die Unternehmen durch Carve-outs mit Börsengang zudem weitere Vorteile. Unter anderem können sie ihre verbliebenen Anteile im Krisenfall am Kapitalmarkt schneller veräußern. Zudem gelten die Unternehmen hierdurch als „local player“, was bei öffentlichen Ausschreibungen hilft. Sie können so dem Trend zum „buy local“ der chinesischen Bevölkerung entgegenkommen.
Aber auch „divestments“, also die Veräußerung von Geschäftsanteilen, beschäftigen deutsche Unternehmen. Sie merken, dass chinesische Unternehmen derzeit großes Interesse an Übernahmen deutscher Unternehmen in China haben. Deutsche Unternehmen gelten wegen ihrer effizienten Prozesse inklusive ihrer professionellen ERP-Systeme und ihrer modernen Produktionsverfahren als begehrte Übernahmekandidaten.
Einen neuen Trend gibt es bei Joint Ventures. Sie waren in der Vergangenheit beim Markteintritt in China für ausländische Unternehmen verpflichtend. Jetzt setzen deutsche Unternehmen proaktiv auf die besonderen Kooperationsvehikel mit einheimischen Firmen. Das hat drei Gründe: Die deutschen Unternehmen wollen
- an schnellen technischen Weiterentwicklungen in diversen Industrien teilhaben. China gilt insbesondere in den Bereichen Elektromobilität (inklusive Ökosystem) und Massendaten-Analysen als führend; außerdem investiert China große Summen in die Wasserstoff-Technik,
- lokale Betriebsgenehmigungen erhalten und
- als „local brand“ und nicht als ausländischer Investor wahrgenommen werden.
Unabhängig davon sind aber auch weiterhin Neuinvestitionen in China zu beobachten. Unternehmen wollen am generellen Marktwachstum partizipieren. Betriebswirtschaftlich sind die Neuinvestitionen auch sinnvoll – und das Risiko ist letztlich überschaubar, da sich viele Investitionen in China in der Regel innerhalb weniger Jahre amortisieren. Das sagte jüngst auch Roland Busch, der CEO der Siemens AG.
Standort Deutschland: Chinas Firmen haben große Herausforderungen – drängen aber dennoch neu auf den Markt
Deutschland ist für China als Standort für Forschung und Entwicklung, Verkauf und Aftersales von Bedeutung. Ein präferierter europäischer Standort für chinesische Produzenten ist Deutschland dagegen in der Breite weiterhin nicht. Das liegt an den vergleichsweisen hohen Lohnkosten und der Möglichkeit, in Ost- und Südeuropa günstiger zu produzieren sowie dank des EU-Binnenmarktes Güter problemlos grenzüberschreitend bewegen zu können. Chinesische Firmen drängen aber mit ihren Marken und Produkten mit Nachdruck auf den deutschen Markt. Besonders im Fokus sind derzeit Batterietechnik, Photovoltaik-Anlagen und Elektro-Autos.
Die angespannte politische Situation führt grundsätzlich zu gebremsten Übernahmeaktivitäten chinesischer Unternehmen in Deutschland. Akquisitionen gestalten sich schwierig. Für die Bundesregierung gilt es, klare Regeln für chinesische Investoren festzulegen. Das wäre zielführender als strikte Investitionsverbote. Relevant sind insbesondere die Begrenzung der übernehmbaren Anteile oder der Ausschluss der Geschäftsführungsverantwortung. Letzteres hat beispielsweise die italienische Regierung jüngst beim Reifenhersteller Pirelli in den Fokus genommen.
Positiv gesehen werden in Deutschland derzeit indes noch sogenannte „Greenfield-Investments“, also Neugründungen chinesischer Produktionsunternehmen auf der deutschen „grüne Wiese“. Das liegt nicht zuletzt an der Entstehung von Arbeitsplätzen in Deutschland, wofür es etliche Beispiele gibt.