Unterhemden aus recycelten Stoffen – das ist die Geschäftsidee eines Start-ups in Ostfriesland. Es fertigt seine Shirts aus achtlos weggeworfenen Textilien, die Umweltorganisationen sammeln und ihm kostenlos liefern. Nachhaltigkeit und „Fair Trade“.
Das kommt bei der Zielgruppe gut an. Und nicht nur da. Ein großer traditioneller Handelskonzern würde die junge Firma gern übernehmen. Deshalb hat er eine Unternehmensbewertung nach klassischen Kriterien erstellt und ein Angebot vorgelegt. Doch das überzeugt den Start-up-Gründer nicht. Er fühlt sich nach falschen Maßstäben beurteilt. Der Mann hat recht.
Neues Business, „alte“ Kennzahlen
Die Unternehmensbewertung im Onlinehandel funktioniert nach anderen Gesetzen als bei rein stationär aufgestellten Betrieben. Da geht es in erster Linie um die richtigen Standorte, Umsatz je Quadratmeter, Flächenproduktivität, Warenplatzierung und -kombination im Laden oder anstehende Investitionen. Für den Onlinehandel gilt es entsprechend adaptierte Werttreiber und Kennzahlen heranzuziehen. Daraus entsteht bei allen Bewertungen unterm Strich ein Zukunftserfolgswert, also eine Renditeerwartung für den Käufer oder Geldgeber. Denn die zahlen nur für das, was sie mit dem Investment voraussichtlich erwirtschaften können.
Dieser – für alle Unternehmen relevante – Zukunftserfolgswert lässt sich für den traditionellen Handel anhand „alter“ Kennzahlen seriös ermitteln und im Markt vergleichen. Aber eine Unternehmensbewertung für die Online-Sparte allein auf dieser Basis wird kaum zuverlässig sein.
Digitale Shops, digitale Daten
Zwar sind die gängigen Messgrößen auch für den Firmenverkauf oder die Finanzierung eines internetbasierten Shops bedeutsam. Aber nur, wenn sie mit weiteren, geschäftsmodellspezifischen Unternehmenswerten kombiniert werden. So ist die Retourenquote eine ganz entscheidende Größe.
Wer im World Wide Web operierende Firmen bewerten will, der muss sich darüber hinaus für die IT-Kosten der jeweiligen Online-Plattform interessieren. Sie ist ein Dreh- und Angelpunkt des Geschäftsmodells, muss fortwährend gepflegt und weiterentwickelt werden. Außerdem produziert die Logistik hohe Kosten, da der Onlinehandel teils große Lager selbst betreibt oder einen Dienstleister dafür bezahlt. Weitere typische Kennzahlen ergeben sich aus der Kaufabbrecher- beziehungsweise Wiederbestellerquote.
Ferner kommt es auf die Umsatzstärke eines Geschäfts im Internet an, weil sie spezifische Skaleneffekte ermöglicht. Eine Online-Plattform muss darauf ausgelegt sein, dass sich nicht nur die anfänglichen 1.000 Kunden, sondern genauso gut 10.000 oder 1.000.000 verwalten lassen. Aber: Mit zunehmendem Wachstum wird für gewöhnlich die Organisation komplexer, nimmt die internationale Ausrichtung zu und verbreitern neue Produktgruppen das ursprüngliche Angebot. Diese Folgethemen gehören mit in eine solide Kalkulation.
Keine Geschichte, keine Benchmark
Ein anderes, wichtiges Kriterium lässt sich allerdings nur schwer greifen. Weil der Onlinehandel ein Geschäftsmodel im Teenager-Alter ist, gibt es nur kurzfristige Erfahrungen und weniger Vergleichsunternehmen, auf deren Basis eine zuverlässige Benchmark in öffentlich verfügbaren Datenquellen möglich ist.
Und wenn wir schon bei den Problemen sind: Es mangelt der jungen Branche naturgemäß an einer verwertbaren, langjährigen Historie. Das gilt besonders für Start-ups. Darüber hinaus ist das innovative Know-how sehr häufig an eine Person beziehungsweise die Gründer gebunden, stellt ohne Etablierung einer zweiten Führungsebene einen potenziellen Entwicklungsengpass dar und geht im schlimmsten Fall mit deren Abgang verloren.
Das Verhältnis zwischen anfänglich geringen Umsätzen und hohen Verlusten einerseits sowie großem möglichen Marktpotenzial andererseits erschwert die Beurteilung der Zukunftsfähigkeit zusätzlich. Erschwerend kommt ein extrem hoher Wettbewerb in der Branche hinzu, der viele junge Unternehmen früh ruiniert. Alle diese Faktoren müssen für die Unternehmensbewertung im Onlinehandel berücksichtigt werden.
Wenig Wissen, viele Fehler
Viele junge Onlinehändler sind zudem in der schwierigen Anlaufphase mit geschäftlichen Basics überfordert. Deshalb durchdenken sie ihr System nicht vollständig und stellen falsche Planungen auf, zum Beispiel zu Mitarbeiteranzahl, Lagerkapazität und Finanzierungsbedarf. Da ist es bis zu einer unrealistischen Selbsteinschätzung der Unternehmensbewertung nicht mehr weit.
Das ostfriesische Start-up hingegen hatte seine Hausaufgaben gemacht. Und es gab eine spezifische Unternehmensbewertung in Auftrag. Heraus kam dabei ein Wert der über dem gebotenen Übernahmepreis lag. Der war dem Handelskonzern zwar zu teuer und er winkte ab. Dafür griff ein Konkurrent zu. Mit seinem Geld arbeitet der Start-up-Gründer schon an einer neuen Geschäftsidee.