Blaue und gelbe Güterwaggons auf Schienen vor blauem Himmel.

Wiederaufbau der Ukraine: Warum der Energiesektor entscheidend ist

Eine sichere Energieversorgung ermöglicht einen stabilen Wiederaufbau des Landes.

Am 11. und 12. Juni 2024 stand die deutsche Hauptstadt im Blickpunkt der internationalen Gemeinschaft, denn Berlin war Gastgeber der Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine. Bei der diesjährigen Ukraine Recovery Conference (UCR2024) stand unter anderem der Wiederaufbau der Energieinfrastruktur im Mittelpunkt, die durch russische Luftangriffe weitgehend beschädigt oder zerstört wurde.

Einen wichtigen Beitrag zum Austausch und zum unbedingten Engagement zur Lösung zentraler Fragen des Energieaufbaus ermöglichte der „Ukraine Energy Roundtable“, der von der ukrainischen Regierung und KPMG Ukraine organisiert wurde.

Ich habe die Diskussion als Head of Energy von KPMG Deutschland moderiert. Wir konnten zahlreiche wichtige Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen sowie der Finanz- und der Energiewirtschaft am runden Tisch zusammenbringen, uns ein umfassendes Bild der Lage vor Ort verschaffen und Prioritäten besser verstehen.

Mehrdimensionale Strategie ist für eine gesicherte Energieversorgung nötig

Beim Roundtable ist deutlich geworden: Für die Ukraine ist es essenziell, eine mehrdimensionale Strategie zu verfolgen, um ihre Energieversorgung zu sichern und dauerhaft zu stabilisieren. Und dies sollte trotz der anhaltenden Kriegssituation umgehend geschehen, insbesondere vor dem Hintergrund des kommenden Winters.

Es geht zunächst um den Kampf gegen die Zeit: Für ein kurzfristiges Bewältigen von akuten Problemen mit der Wärme- und Stromversorgung der Bevölkerung angesichts der näher rückenden Winterperiode hat es nun höchste Priorität, dass das Ausland Hilfestellungen aller Art leistet, um die Not zu lindern. Über allem steht die Notwendigkeit, rechtzeitig zu handeln, um die Belastungen eines weiteren Kriegswinters für die Menschen in der Ukraine zu mildern. Die Ukraine bittet die Weltgemeinschaft, alle möglichen Teile der Erzeugungs- und Transportinfrastruktur zu liefern – auch aus Altbeständen. Auch ist der zeitnahe Ausbau von Windenergie- und Solaranlagen zu forcieren. Im Vergleich zu fossilen Kraftwerken haben solche Anlagen den Vorteil, dass viele kleine Einheiten auf einer großen Fläche wesentlich aufwendiger zu beschädigen sind.

Unkonventionelle Entscheidungen und Maßnahmen angesichts des Ausnahmezustands notwendig

Gleichzeitig sollte der mittelfristige Neuaufbau der Versorgungsstruktur angegangen werden. Die benötigten Kapazitäten sind teilweise vollständig neu zu errichten, da davon auszugehen ist, dass Teile der Stromerzeugungs- und Wärmeerzeugungskapazitäten endgültig verloren sind. Die Chance, dabei eine nachhaltige, klimaorientierte Energieerzeugung und Transportinfrastruktur zu errichten, wird dabei mitgedacht.

Und die Zeit drängt – das ist ein zentraler Aspekt. Alle Vorhaben, die noch nicht gestartet sind, sollten unverzüglich angegangen werden. Das wurde beim Roundtable betont. Jede Verzögerung werde die Probleme nur verschlimmern.

Alle Umsetzungsmaßnahmen erfolgen mit dem Versuch einer höchstmöglichen Ab- und Versicherung für die beteiligten Parteien. Parallel zu den Überlegungen und Planungen sind Rahmenbedingungen zu schaffen, die Sicherheit von Investitionen und Personal gewährleisten können. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um den Kreislauf von Wiederherstellung und Zerstörung zu durchbrechen.

Dabei ist klar: Die rasche Instandsetzung und der nachhaltige Ausbau der Energieversorgung sind die zentralen Hebel, um der Ukraine die Stabilität zu geben, die für die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, für die Ansiedlung neuer Unternehmen und für Investitionen dringend benötigt wird. Fest steht insgesamt: Um dem aktuellen Ausnahmezustand gerecht zu werden, sind unkonventionelle Entscheidungen zu treffen.

Hintergrund und Einordnung: Die Zerstörung der Energieinfrastruktur der Ukraine

Das ukrainische Energiesystem war eines der größten in Europa. Vor Beginn des russischen Angriffskriegs war vor allem der Energiesektor mit einer Größenordnung von bis zu 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eine wesentliche Ursache für das Wachstum und für die Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft. Schon kurz nach Beginn des Kriegs begann die russische Armee, die ukrainische Infrastruktur und Stromversorgung anzugreifen. Seit dem Frühjahr 2024 zielen die russischen Luftangriffe in einer beispiellosen Angriffswelle nun insbesondere auf den Zusammenbruch der Strom-, Wärme- und Wasserversorgungskapazitäten der Ukraine.

Nach offiziellen Angaben aus Kyjiw sind seit April mehr als 50 Prozent der Energieinfrastruktur und acht Gigawatt Kraftwerksleistung zerstört oder schwer beschädigt worden. Darüber hinaus sind geschätzte 80 Prozent der thermischen Kraftwerkskapazität des Landes zerstört oder nicht mehr nutzbar. Auch das größte Wasserkraftwerk der Ukraine, das Dnipro-Wasserkraftwerk bei Saporischschja, ist seit einem russischen Großangriff am 2. Mai in einem kritischen Zustand. Nach Angaben des Betreibers Ukrhydroenergo hat das Kraftwerk ein Fünftel seiner Kapazität verloren und der Wiederaufbau wird bis zu zwei Jahre dauern. Die Folgen für die Bevölkerung und die Unternehmen des Landes sind massiv und kaum zu bewältigen.

Schäden in Höhe von 450 Milliarden Euro: Zusätzliche Unterstützung essenziell

Ein deutliches Signal seitens der EU auf der Ukraine Recovery Conference ist die Zusage neuer Garantie- und Finanzhilfevereinbarungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro für den Wiederaufbau der Wirtschaft und insbesondere der Energieinfrastruktur in der Ukraine. Die staatlichen Finanzmittel der EU und der Mitgliedstaaten werden jedoch nicht ausreichen, um die in der Ukraine entstandenen Schäden in Höhe von geschätzt 450 Milliarden Euro zu beheben. Deutschland hat sich deshalb auf der Wiederaufbaukonferenz bereiterklärt, den ukrainischen Energiesektor ergänzend zum EU-Beitrag weiterhin zu unterstützen. Durch die zusätzliche Absicherung von Risiken soll auch privates Kapital für den Wiederaufbau gewonnen werden.

Für mich ist klar: Der Wiederaufbau kann nur gelingen, wenn die internationale Staatengemeinschaft und die Privatwirtschaft zusammenarbeiten. Hierfür wurden und werden weiterhin wichtige Voraussetzungen geschaffen. Für die Bevölkerung und die wirtschaftliche Zukunft des Landes ist der Ausbau und die Sicherung der Energiekapazitäten in der Ukraine von entscheidender Bedeutung. Es wird Jahre dauern, bis die Energieinfrastruktur vollständig wiederhergestellt ist, doch es sollte sofort angefangen werden, zumindest die wichtigsten Teile davon wieder nutzbar zu machen. Finanzielle Mittel stehen bereit. Die beteiligten Parteien arbeiten an Regelwerken für eine schnelle und unbürokratische Zuteilung.

Ukraine will Reformagenda trotz des Kriegs weiterverfolgen

Dass die Stromversorgung trotz der massiven Angriffe im März und April nicht vollends zusammengebrochen ist, liegt vermutlich auch daran, dass die Ukraine kurz nach Kriegsbeginn mit dem europäischen Stromnetz verbunden worden ist. Anteilig kann die Grundlast der ukrainischen Stromerzeugung derzeit durch die drei noch unter staatlicher Kontrolle stehenden Kernkraftwerke sichergestellt werden. Zudem stehen nach Angaben des Netzbetreibers Ukrenergo noch bis zu 1,7 Gigawatt an Kapazität aus dem April aus Rumänien, der Slowakei, Polen, Ungarn und Moldawien für Stromimporte zur Verfügung. Diese können ausgefallene Kapazitäten ausgleichen. Durch den Ausbau von Interkonnektoren können außerdem zusätzliche Kapazitäten für dringend benötigte Stromimporte in die Ukraine geschaffen werden.

Trotz des Krieges will die Ukraine ihren internationalen Verpflichtungen in vollem Umfang nachkommen sowie die Reformagenda für den Energiesektor weiterverfolgen und umsetzen. Dies geht Hand in Hand mit den notwendigen Reformen, die die Ukraine durchführen muss, um der EU mit stabilen Institutionen, die zu Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet sind, beitreten zu können. Um die staatliche Regulierung des Energiesektors zu verbessern und schädliche Auswirkungen auf die Umwelt zu minimieren, arbeitet die Ukraine eng mit internationalen Partnern zusammen. Die Notwendigkeit, Vertrauen bei potenziellen Investoren zu schaffen, wird als wesentliche Grundlage für die Umsetzung von Reformen anerkannt.

Es ist wichtig, jetzt gezielt mit dem Wiederaufbau zu beginnen, um den Menschen in der Ukraine das tägliche Leben in Kriegszeiten zu erleichtern und das Überleben der Ukraine als Staat und Gesellschaft zu sichern.