Decoupling Zwei Männer schauen von gegenüberliegenden Gebäuden in den Abgrund

Decoupling und geopolitische Schocks: Die Welt im Wandel

Zeitenwende – die Globalisierung ist nicht vorbei, wird sich aber ändern.

Das aktuelle Jahrzehnt ist von einer großen wirtschaftlichen Unsicherheit sowie durch politische Konflikte geprägt. Nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt. Welche Lehren sollten Unternehmen in Deutschland hieraus ziehen?

Multiple Herausforderungen für deutsche Unternehmen

Die jüngsten geopolitischen Konflikte wie der Krieg in der Ukraine, oder die Covid-19-Pandemie kamen für die deutsche Wirtschaft überraschend und haben gezeigt, dass diese auf die geopolitischen Entwicklungen nicht vorbereitet war. Eine Erfahrung der letzten Jahre ist, dass auch unwahrscheinliche und sogar für unmöglich gehaltene politische und wirtschaftliche Entwicklungen dennoch eintreten und sich massiv auf unsere Wirtschaft in Deutschland und Europa auswirken können. Zugleich haben wir durch jüngste Konflikte lernen müssen, dass nicht alle internationalen Akteure politisch rational, moralisch richtig oder gesetzeskonform agieren.

Eine weitere Erkenntnis der vergangenen Jahre: Stabile Lieferketten in der EU und auch weltweit sind keine Selbstverständlichkeit. Das bedeutet, dass die „just in time“-Anlieferung sowie der Bezug ausschließlich beim global günstigsten Lieferanten nicht mehr die Modelle der Zukunft seien können.

Hinzu kommen neue große Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft aus dem Thema Klimaschutz. Unternehmen müssen abwägen zwischen der Gewinnmaximierung „um jeden Preis“ und einer nachhaltigen Geschäftsstrategie. Die Entwicklungen zeigen, dass Nachhaltigkeit das Gebot der Stunde ist. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Klimawandels, aber auch mit Bezug zur Krisenanfälligkeit. Klimaschutz und Resilienz bedürfen auf der einen Seite immense Investitionen, beides bietet aber auf der anderen Seite gerade für die deutsche und europäische Wirtschaft auch neue Geschäftschancen.

Auch der Blick auf China hat sich angesichts von Decoupling-Tendenzen jüngst verändert und der Ruf nach einem Ausstieg aus dem China-Geschäft wird laut. Zurecht?

Chinas Rolle im Decoupling

China ist im heutigen weltwirtschaftlichen Geschehen ein global agierender Wettbewerber auf Augenhöhe. Man kann dem chinesischen Staat meines Erachtens nach nicht vorwerfen, Industriepolitik zu betreiben und eigene wirtschaftliche Interessen umzusetzen. Man könnte eher den europäischen Staaten vorwerfen, das tradierte Geschäftsmodell innerhalb der EU nicht hinterfragt und regelmäßig adaptiert zu haben.

Richtig ist aber: Es gibt keine gleichen Wettbewerbsbedingungen mit China – weder im lokalen chinesischen Markt noch auf Auslandsmärkten, da chinesische Staatsunternehmen massiv subventioniert werden. Dass China hiervon ablässt, bleibt meiner Meinung nach illusorisch. Die Frage, die sich stellt: Sollte die westliche Welt und die EU die eigenen Unternehmen in gleicher Weise subventionieren?

Zusätzlich schafft China strategische Achsen mit Russland als Rohstofflieferant und verlängerte Werkbank sowie mit Südostasien als Absatzgebiet. China praktiziert zudem „selektives Coupling“ in den Bereichen, in denen westliches Know-how benötigt wird, um sich weiterzuentwickeln. In Bereichen, wo es bereits global führend ist, verfolgt China hingegen eine Strategie des Decouplings. Da chinesische Unternehmen weiter aufholen werden, ist wahrscheinlich, dass auch das „selektive Coupling“ spätestens im nächsten Jahrzehnt enden wird.

Sollte dies ein Anlass für deutsche Unternehmen sein, den chinesischen Markt jetzt zu verlassen? Meiner Meinung nach, nein. Es wäre wirtschaftlich unvernünftig, die umfangreichen Investitionen der letzten Jahrzehnte in China aufzugeben. Zudem gibt es keine globalen Märkte, die heute in der Lage wären für deutsche Unternehmen den Verlust aus einem Ausstieg aus China aufzufangen.

Es muss aber Klarheit bestehen, dass das Geschäftsmodell China langfristig nicht funktionieren wird und sich die deutsche Wirtschaft breiter aufstellen muss: Es ist notwendig, die Herausforderungen der bestehenden Klumpenrisiken und Abhängigkeiten jetzt anzugehen und zusätzliche Regionen zu erschließen und auszubauen. Diese Entwicklung sollte von den Unternehmen möglichst entlang der ganzen Wertschöpfungskette umgesetzt werden, das heißt, vom Einkauf über Produktion und F&E bis hin zum Absatz.

Vier vielversprechende zusätzliche Märkte

Ich sehe mehrere Produktionsstandorte und Absatzmärke in der Welt, die näher betrachtet werden sollten: 

Afrika

Anders als China es handhabt, ist Afrika nicht nur ein Rohstofflieferant: Als Produktionsstandort ist das Land attraktiver und günstiger als Osteuropa. Vor allem im Hinblick auf die in Osteuropa stark gestiegenen Personalkosten und der geopolitisch unsicheren Lage. Die deutsche Industrie sollte sich dort ansiedeln, wo günstige und erneuerbare Energie verfügbar ist. Die Energie der Zukunft ist nirgendwo mehr vorhanden als in Afrika: Sonne und Wind.

Hinzu kommt die geographische Nähe zu Europa. Afrika liegt quasi direkt vor Europas Haustür, so dass die Lieferwege für Unternehmen in der EU viel weniger störungsanfällig sind als aus Asien oder Südamerika.

Zudem verfügt Afrika über eine Bevölkerung von insgesamt fast 1,3 Milliarden Menschen und hat die am schnellsten wachsende Bevölkerung der Welt.

Deutschland und Frankreich sollten als größte Wirtschaftsnationen Europas die bestehenden Geschäftschancen in Afrika gemeinsam entwickeln. Zumal es komplementäre Geschäftsfelder gibt, in denen französische und deutsche Unternehmen nicht im Wettbewerb stehen. Ebenfalls sollte ein EU-Afrika-Freihandelsabkommen in Betracht gezogen werden.

Südostasien

Südostasien verfügt über einen großen Absatzmarkt und eine wachsende Mittelschicht sowie günstige Produktionsstandorte. Hier müssen die EU und deutsche Unternehmen aktiver werden, denn durch das asiatisch-pazifische Freihandelsabkommen RCEP ist es China bereits 2020 gelungen seinen wirtschaftlichen Einfluss in dieser Region zu vergrößern.

Mittlerer Osten

Welche Chancen gerade in Saudi-Arabien für deutsche Unternehmen bestehen, haben wir in einem aktuellen Whitepaper zusammengefasst. Mehr hier: Vision 2030 Saudi-Arabien.

Indien

Indien wird in Kürze China als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholen. Auch hier muss die EU den Schulterschluss suchen, bevor Indien sich Russland zuwendet.

Mein Fazit: Besonnen bleiben. Das bestehende internationale Geschäft sichern und zugleich diversifizieren. Trotz der Herausforderungen, bei allem Handeln langfristiger und nachhaltiger agieren.

Lesen Sie hier Handlungsempfehlungen für Unternehmen in Bezug auf geopolitische Störfälle und die Entkoppelung der Weltwirtschaft.

Andreas Glunz