Die deutsche Wirtschaft steht angesichts sinkender Auftragseingänge und geringerer Kaufkraft vor mannigfaltigen Aufgaben. Auch die großen deutschen Automobilhersteller präsentierten zuletzt durchwachsene Ergebnisse und haben in den letzten fünf Jahren sowohl in Europa als auch in China auf den zwei wichtigsten Weltmärkten Marktanteile im mittleren einstelligen Prozentbereich eingebüßt. Der immense Handelsüberschuss im Autosektor der EU mit China ist ebenfalls in rasender Geschwindigkeit zusammengeschmolzen. Spätestens seit den letzten großen internationalen Leitmessen IAA Mobility und Auto Shanghai ist auch in Deutschland klar geworden, dass in der Automobilindustrie im Vertrieb erheblicher Handlungsbedarf besteht.
Die Wettbewerbsbedingungen der Automobilindustrie ändern sich durch die E-Mobilität, den Markteintritt asiatischer Hersteller und steigende Erwartungen der Kundschaft. Beispielsweise zählen eine nahtlose Customer Experience und nutzerzentrierte digitale Infotainment- und Konnektivitätsdienste für Automobil-Führungskräfte heute zu den wichtigsten Faktoren beim Autokauf. Die politisch-wirtschaftliche Gemengelage bietet Automobilherstellern jetzt die Chance, sich auf die neue Marktsituation einzustellen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, sind auf Basis unserer Erfahrungen in der Arbeit mit OEMs (Original Equipment Manufacturers) im Vertrieb fünf Maßnahmen notwendig.
1. Integrierte Servicepakete anbieten
Automobilhersteller sollten sich auf integrierte Servicedienstleistungen konzentrieren, um sich als serviceorientierter Mobilitätsdienstleister und ganzheitlicher Ansprechpartner für die Kund:innenbedürfnisse zu positionieren. Durch die Elektrifizierung der Fahrzeuge sowie Marktdurchdringung von Apps in der Interaktion mit der Kundschaft ergeben sich für Automobilhersteller Chancen, mit integrierten Servicepaketen rund um digitale Produkte den eigenen Wertschöpfungsanteil und die Marktpräsenz vor Kunde steigern.
So können Automobilhersteller die Kund:innenbindung erhöhen, die -loyalität stärken und zusätzliche Einnahmequellen generieren. Eine überwiegende Mehrheit (62 Prozent) befragter Top-Führungskräfte in unserem Whitepaper „Digital Products Playbook“ geht gerade bei digitalen Produkten und Services davon aus, dass Kund:innen bereit sein werden, monatliche Abogebühren zu bezahlen. Wie das erfolgreich umgesetzt werden kann, haben wir im Whitepaper vorgestellt. Unternehmen, die sich auf fünf Erfolgsfaktoren konzentrieren, sind wirtschaftlich mehr als 30 Prozent erfolgreicher.
Für eine erfolgreiche Umsetzung sollten integrierte Servicepakete auf die spezifischen Bedürfnisse zugeschnitten sein und aus einer Hand angeboten werden. Planungsgrundlage für erfolgreiche integrierte Servicedienstleistungen sollten die Bedürfnisse entlang der gesamten Customer Journey und des Kund:innenlebenszyklus sein, die über den reinen Verkauf von Fahrzeugen hinausgehen.
In der Praxis erfordern integrierte Servicepakete eine weitreichende Transformation, die weit über das angepasste Angebot vor Kunde hinausgeht und bis tief in die Geschäftsprozesse und Technologiearchitektur hineinreicht. Die Endkund:innen können sich bei erfolgreicher Umsetzung je nach Ausgestaltung auf einen attraktiven Mix bestehend aus Konnektivitätsdiensten (z.B. digitale Pannenhilfe), bester Wartung (z.B. Fernwartung und Over-the-Air Updates), aber auch Finanzdienstleistungen (z.B. Versicherungen oder Finanzierungsoptionen) verlassen.
2. Wirkungsvolle, ganzheitliche Voice-of-the-Customer-Programme schaffen
In den letzten Jahren haben Automobilhersteller gezielt eigene, vor allem digitale Touchpoints zu Endkund:innen aufgebaut und damit wichtige Voraussetzungen für erfolgreichen Direktvertrieb geschaffen. Nun gilt es, mit Voice-of-the-Customer-Programmen die neuen digitalen Touchpoints und Mobilitätsangebote zu nutzen, um First-Party-Kundenfeedback zu erheben und daraus Maßnahmen zur Verbesserung der eigenen Produkte und Prozesse abzuleiten. Das erfordert neben einer klaren Verankerung in der Vertriebsstrategie insbesondere folgende Entscheidungen bzw. Fragen auf folgende Antworten:
- Welche Daten (zum Beispiel Net Promoter Score) werden wie häufig an welchen Touchpoints (zum Beispiel während der Fahrzeugkonfiguration, nach der Probefahrt etc.) gesammelt?
- Wie werden diese Daten analysiert und als handlungsleitende Maxime zur Verfügung gestellt (zum Beispiel dem Handel oder dem 1st-Level-Kundenservice)?
- Wer kümmert sich um strukturelle, längerfristige Verbesserungsmaßnahmen inklusive Umsetzungskoordination (erfahrungsgemäß ergeben sich besonders an Abteilungsschnittstellen vorab unerwartete zeitliche Verzögerungen)?
- Welche Governance ist für eine erfolgreiche Steuerung und Standardisierung des gesamten Voice-of-the-Customer-Vorgehens zielführend?
3. Restrukturierungen im Vertrieb eng mit der Service-Organisation verzahnen
Die Einführung digitaler Produkte, Öffnung neuer Vertriebskanäle und Änderungen im Vertriebsmodell haben bei Automobilherstellern häufig dazu geführt, dass einige elementare Schmerzpunkte im Vertrieb optimiert wurden. Gleichwohl sind die nachgelagerten Supporteinheiten oft noch nicht optimal darauf abgestimmt. Das ist besonders kritisch, da die Problemlösungskompetenz des Automobilherstellers der wichtigste Faktor für Kund:innenzufriedenheit mit dem Support ist. Hersteller sollten insbesondere die eigenen Prozesse, Rollenprofile sowie Fähigkeiten und Wissen der Mitarbeitenden im Umgang mit digitalen Produkten in der eigenen Customer-Support-Organisation prüfen und gezielt stärken.
Auf diesem Entwicklungsfeld gibt es häufig besonders großen Nachholbedarf, da sich traditionell aufgestellte Automobilhersteller in der Vergangenheit vor allem auf fahrzeugbezogenen Kundenservice fokussiert haben. Für sie ist nun der Aufbau von Kompetenzen erforderlich, da digitale Produkte andere Fragen der Kundschaft hervorrufen, mit denen beispielsweise das 1st Level im Kundenservice in der Regel noch nicht vertraut genug ist. Zusätzlich kann die Kundschaft durch einen gezielt aufgebauten Self-Service effizient befähigt werden, mit Videos, Infografiken und Artikeln eigenständig Lösungen für bestehende Fragen zu finden.
4. Die Customer Journey mit strategischen Ökosystem-Partnerschaften gezielt verbessern und Medienbrüche schließen
Automobilhersteller sollten die Orchestrierung der Stakeholder und Ökosysteme nutzen, um das nahtlose, kanalübergreifende Einkaufserlebnis gezielt zu gestalten. Durch digitale Produkte können Brücken zwischen Herstellern, National Sales Companies und Händler-Touchpoints gebaut werden, um die Kund:innen entlang der Customer Journey mit einer begehrenswerten Erfahrung für die Kundschaft zu steuern. Ein ansprechend gestaltetes Kundenkonto, ein attraktiver Konfigurator und einfache Probefahrtbuchungsoptionen können Abwanderungsrisiken vermeiden und Kund:innen zum nächsten Schritt der Customer Journey führen. Dies ist besonders für Automobilhersteller wichtig, da die Kaufentscheidung aufgrund des hohen Preises meistens nicht beim Erstkontakt fällt und Kund:innen mehr Zeit zur Information aufwenden.
Zusätzlich kann durch strategische Partnerschaften das Gesamtangebot vor Kunde gezielt erweitert werden: Gerade in Deutschland und Zentraleuropa sind Kooperationen angesichts umfangreicher und qualitativ hochwertiger Kompetenzen von Herstellern, Forschung und Zulieferern möglich. In der Praxis zeichnen sich erfolgreiche Zusammenarbeitsmodelle auch aktuell ab: Zum einen werden beispielsweise neue Fahrzeug-Cockpits von zwei Unternehmen gemeinsam entwickelt, zum anderen wurden auf der IAA Mobility jüngst etablierte OEMs mit Branchen-Neulingen sowie Start-ups zusammengebracht. Auch enge Kooperationen zwischen Automobilherstellern und Ladedienstleistern sind teilweise schon umgesetzt.
Drittens ist ein asiatischer Hersteller eine neue strategische Vertriebspartnerschaft mit einem bekannten Online-Marktplatz eingegangen, um auf der Plattform ab 2024 Fahrzeuge zu inserieren und zu verkaufen. Auch wenn der Online-Vertrieb von Neuwagen bisher noch in einer Nische steckt, sind 80 Prozent der Expert:innen überzeugt, dass bereits 2030 die meisten Autokäufe online abgeschlossen werden – weitere Automarken dürften künftig diesem Modell folgen.
5. Kundenzentrierte Teams schaffen, die horizontal arbeiten, interdisziplinär zusammengesetzt sind und definierte Ergebnisse liefern
Der Wandel zu einer dynamischeren, agilen und wertschöpfungsorientierten Organisation ist notwendig, um die sich regelmäßig verändernden Bedürfnisse der Kundschaft noch besser zu bedienen. Kund:innenzentrierte Teams liefern crossfunktional über Abteilungsgrenzen hinweg in horizontaler Organisation definierte Ergebnisse. Aktuell zeichnen sich einige Automobilhersteller im Vertrieb noch durch eine zu strikte Einhaltung der formalen Organisationsstruktur aus – dadurch werden bürokratische Silos schaffen und Innovationen behindert. Erste Automobilhersteller erkennen die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Vertrieb und Digitaleinheit und etablieren eine netzwerkbasierte, kund:innenorientierte Prozessorganisation, die Mitarbeitende zu schnellen Entscheidungen befähigt und die richtigen Mitarbeitenden mit den richtigen Aufgaben kombiniert.
Der Wandel erfordert auch Veränderungen in den individuellen und bereichsbezogenen Ziel- und Bonussystemen sowie die Etablierung einer Erfolgskultur geprägt von Empowerment und gegenseitigem Vertrauen. Für Automobilhersteller werden so unvorteilhafte Reibungsverluste wie beispielsweise unnötig häufige Übergaben zwischen Abteilungsgrenzen oder unklar definierte Anforderungen in der (digitalen) Produktentwicklung reduziert.
Die fünf aufgezeigten Maßnahmen bieten Automobilherstellern die große Chance, ihre Resilienz in unsicheren Zeiten zu erhöhen und somit die Wettbewerbsfähigkeit nicht nur sichern, sondern in erheblichem Maß Marktanteile im strategischen wichtigen Servicegeschäft hinzugewinnen. Damit werden wichtige Weichen für die in den nächsten Jahren zu erwartenden Herausforderungen gestellt.
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