Nachhaltigkeitsziele und -kriterien – im weiteren Sinne ESG-Aspekte – stehen zunehmend im Fokus der gesellschaftlichen Debatte und bestimmen das Konsumverhalten von Verbraucher:innen. Deshalb wächst in Unternehmen die Motivation, Nachhaltigkeitsinitiativen teils sogar branchenweit ins Leben zu rufen. Diese können für teilnehmende Unternehmen zugleich einen Wettbewerbsvorteil und für andere Marktteilnehmer Nachteile erzeugen.
Damit rückt das Thema auch im Kartellrecht zunehmend in den Mittelpunkt: Auch wenn Initiativen sozial und gesellschaftlich erwünschte ESG-Themen adressieren, können sie als wettbewerbsbeschränkende Absprachen unter das Kartellverbot fallen. Die Folgen können gravierend sein: Es drohen insbesondere hohe Bußgelder, Schadensersatzforderungen und Reputationsschäden.
ESG-Initiativen: Für Unternehmen besteht Rechtsunsicherheit
Ob eine solche Absprache dem Kartellverbot unterliegt oder unter welchen Voraussetzungen Nachhaltigkeitsaspekte bei der Bewertung potenziell wettbewerbsbeschränkender Absprachen berücksichtigungsfähig sind und diese gegebenenfalls rechtfertigen könnten, ist den Marktteilnehmern mit den heutigen kartellrechtlichen Regelungen allerdings oftmals unklar.
Das Bundeskartellamt geht unter bestimmten Voraussetzungen nicht gegen Absprachen vor, die Nachhaltigkeitskriterien zum Inhalt haben. Das war etwa bei der „Initiative Tierwohl“, dem „Fairtrade-Label“ und dem Siegel „Grüner Knopf“ der Fall. Dies sind jedoch punktuelle Entscheidungen, die nur teilweise generelle Aussagen beinhalten. Daher ist diese Praxis nicht ohne Weiteres auf andere Einzelfälle übertragbar.
Damit besteht in diesem Bereich derzeit eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Unternehmen, die Initiativen rund um das Thema Nachhaltigkeit betreiben oder starten möchten, sind grundsätzlich gehalten, selbst zu beurteilen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Zusammenarbeit mit Wettbewerbern in diesem Bereich aus Sicht des Kartellrechts zulässig ist oder nicht.
EU-Kommission entwickelt Bewertungskriterien im Kartellrecht
Inzwischen gibt es jedoch Initiativen, um Bewertungsmaßstäbe zur Vereinbarkeit von „Sustainability Agreements“ mit Kartellrecht zu implementieren. Die Europäische Kommission hat jüngst ihren Entwurf der überarbeiteten Horizontalleitlinien veröffentlicht, die erstmals ein Kapitel zur kartellrechtlichen Zulässigkeit von Nachhaltigkeitsabsprachen zwischen Wettbewerbern enthalten.
Der Entwurf hat – sollte er so erlassen werden – großes Potenzial, branchenübergreifend für mehr Klarheit zu sorgen. Er enthält insbesondere eine strukturierte Darstellung verschiedener Szenarien zu Nachhaltigkeitsabsprachen sowie Kriterien für deren kartellrechtliche Bewertung.
Dadurch bietet er einen konkreten und ausführlichen Leitfaden, anhand dessen Marktteilnehmer branchenübergreifend Absprachen bewerten können, die die Förderung von Nachhaltigkeitsaspekten bezwecken. Wesentliche Eckpunkte haben wir in den nachfolgenden Szenarien zusammengefasst:
Kartellrecht: Szenario 1
Absprachen, die sich nicht auf den Preis, die Quantität, die Qualität, die Auswahl oder Innovationen eines Marktes auswirken, können aus Wettbewerbssicht regelmäßig als unbedenklich und damit zulässig betrachtet werden.
Darunter fallen beispielsweise Absprachen, die nicht die wirtschaftliche Tätigkeit von Wettbewerbern betreffen, sondern ausschließlich das eigene interne Unternehmensfeld (z. B. Absprache zwischen Unternehmen einer Industriesparte, weniger Papier zu drucken). Ebenfalls zulässig wären demnach branchenweite Kampagnen, die Verbraucher:innen oder die gesamte Branche auf ein Nachhaltigkeitsthema aufmerksam machen, ohne dass es sich dabei um gemeinsame Werbekampagnen für bestimmte Produkte handelt.
Kartellrecht: Szenario 2
Wirkt sich die Absprache auf wettbewerbsrelevante Parameter wie Preis, Quantität, Qualität, Auswahl oder Innovationen aus, so handelt es sich um eine potenziell wettbewerbsbeschränkende Absprache. Diese ist am Kartellverbot zu messen.
Der Entwurf der neuen Horizontalleitlinien enthält einen neuen „Soft safe harbour“ für Standardisierungsabsprachen, die auf das Erreichen bestimmter Nachhaltigkeitsziele abzielen. Dafür werden bestimmte Voraussetzungen formuliert, nach denen eine Absprache ausgestaltet sein muss, damit sie sich auf den Wettbewerb aller Wahrscheinlichkeit nach nicht negativ auswirkt.
Insbesondere muss der Prozess zur Entwicklung des Standards transparent sein und allen Wettbewerbern, die an der Teilnahme interessiert sind, offenstehen. Zudem muss es teilnehmenden Unternehmen freistehen, noch höhere Standards anzuwenden.
Kartellrecht: Szenario 3
Selbst eine wettbewerbsbeschränkende Absprache ist nicht grundsätzlich verboten. Sie kann unter bestimmten „rechtfertigenden“ Voraussetzungen zulässig sein:
- Die Verbraucher:innen müssen angemessen und nachweisbar an den durch die Nachhaltigkeitsinitiative entstehenden Effizienzgewinnen beteiligt werden.
- Effizienzgewinne können beispielsweise Produktverbesserungen, Preisverringerungen oder eine Verringerung der Wasserverschmutzung sein.
- Berücksichtigungsfähig sollen auch (individuelle) Verbraucheransichten sein, insbesondere dann, wenn die Verbraucher:innen durch das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen auch ein besseres Gefühl oder Gewissen bei dem Kauf eines nachhaltig hergestellten Produktes haben und dieses wertschätzen. Beispiele: Das teurere nachhaltige Waschmittel belastet die Umwelt weniger. Teurere Möbel werden aus nachhaltig produzierten Hölzern anstatt aus Tropenhölzern hergestellt, ohne eine direkte Qualitätsverbesserung aufzuweisen.
- Sowohl ein gesteigerter individueller Nutzen für die Verbraucher:innen als auch ein gesteigerter Nutzen für die Allgemeinheit ist berücksichtigungsfähig.
Leitlinien haben Potenzial für mehr Rechtssicherheit
Im Januar 2023 soll die endgültige Fassung der Horizontalleitlinien veröffentlicht werden. Daher bleibt noch abzuwarten, ob und in welcher Form die dargestellten Leitlinien in Bezug auf Nachhaltigkeitsinitiativen bestehen bleiben.
Sollte der Entwurf so erlassen werden, kann er Unternehmen bei der Selbsteinschätzung und auch in der Beratungspraxis eine große Hilfestellung bieten, um die kartellrechtliche Zulässigkeit von Nachhaltigkeitsinitiativen mit hinreichender Rechtssicherheit beurteilen zu können.
Zugleich stärken die Leitlinien die Handlungsfähigkeit: Unternehmen, die wegen bestehender Unsicherheiten bislang von gemeinsamen Nachhaltigkeitsprojekten mit Wettbewerbern absehen oder noch zögern, werden künftig neue Möglichkeiten sehen, mit Nachhaltigkeitsinitiativen am Markt zu agieren und gleichzeitig das Risiko eines Kartellverstoßes zu vermeiden.
Der Beitrag wurde zusammen mit Jacqueline Unkelbach erstellt.
Webcast Live: Neue Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD)