Das Silodenken haben Sie bereits angesprochen. Welche Herausforderungen bestehen derzeit, um die Potenziale von Kooperationen im Gesundheitswesen zu verwirklichen?
Eine Herausforderung sind die unterschiedlichen Interessen und Ziele, die alle ihre Berechtigung haben, aber zum Teil entgegengesetzt sind. Das merken wir zurzeit besonders im Umgang mit dem Digitalisierungsgesetz oder mit dem Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG): Die Denkweisen sind oft verfestigt, sodass es schwierig ist, schnelle Lösungen in dringlichen Situationen zu finden.
Welche Werkzeuge können Sie anwenden, damit sich die Akteure hier aufeinander zubewegen?
Ein Beispiel: Gemeinsam mit dem Bundesverband der Arzt-, Praxis- und Gesundheitsnetze e.V. (AdA), dem Bundesverband Managed Care e.V. (BMC) und dem Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. (DGIV) hat das NDGR am 16. Mai 2023 zur Stärkung regionaler Initiativen im Gesundheitswesen aufgerufen. Wir versuchen, die vermeintlichen Differenzen kleinzuhalten und uns darauf zu konzentrieren, was wir gemeinsam haben. Hier kommt unsere Vermittlungsrolle zum Tragen.
Wie würden perfekte Rahmenbedingungen aussehen, um sinnstiftende Kooperationen im Gesundheitswesen realisieren zu können?
Es muss neben einer funktionierenden Vernetzung auch gelingen, den jeweiligen Standort zu entwickeln und zum Aushängeschild für die Region zu machen. Als große Arbeitgeberin ist die Gesundheitswirtschaft für die Menschen nicht nur aus Sicht der eigenen Gesundheit, sondern auch aus beruflicher Perspektive relevant. Zudem hat sie auf familiärer Ebene große Bedeutung, etwa bei der Pflege von Angehörigen. Die Schnittstellen von Arbeit, persönlichen Interessen und Innovationspotenzial zu vereinen, ist eine Kompetenz der Gesundheitsregion KölnBonn.
Die Rahmenbedingungen, die wir brauchen, müssen zunächst einmal Kooperation überhaupt ermöglichen. Das NDGR setzt sich für eine agile und nachhaltige Kümmerstruktur im Gesundheitswesen ein, sodass den Gesundheitsregionen Verantwortung zukommen kann.Das erfordert aber auch Mittel. Diese können aus einer langfristigen Refinanzierung kommen. Zuvor muss es generell erst einmal rechtlich möglich sein, diese Kümmerstrukturen zu etablieren. Die Ausgestaltung der angesprochenen perfekten Rahmenbedingungen kann je Region sehr unterschiedlich sein, je nach dem ob die Regionländlich oder urban ist, je nach ihrer Bevölkerungsdichte und ihren realen Bedarfen.
Als Deutsch-Französin mit beruflichen Stationen im europäischen sowie nord- und südamerikanischen Ausland haben Sie viel internationale Erfahrung. Was können Akteurinnen und Akteure des deutschen Gesundheitswesens von ausländischen Playern lernen?
Über diese Frage freue ich mich besonders, denn es gibt so viele Dinge, die man lernen kann, und das beginnt schon in den kleinsten Details. Zu meinen Aufgaben beim Gesundheitsregion KölnBonn e.V. und beim Netzwerk Deutsche GesundheitsRegionen e.V. zählt die Vernetzung mit anderen europäischen Regionen und Netzwerken, zum Beispiel als Vertreterin der „HealthRegion CologneBonn“ die als Referenzstandort für gesundes Altern 2022 ausgezeichnet wurde und sich beim Reference Site Collaborative Network einbringt und mit den anderen europäischen Regionen austauschen kannEine zentrale Lernmöglichkeit besteht in technischen Innovationen, die bereits in anderen Regionen und Ländern getestet worden sind. Ein anderes Feld betrifft die Rolle der Agierenden im Gesundheitswesen und die Stellung der Patientinnen und Patienten, die auch in jedem EU-Mitgliedsstaat unterschiedlich ist. Das hat auch sehr viel mit der Kultur zu tun.
Lernen können wir auch in Sachen Risikobereitschaft bei der Einführung von Innovationen und von neuen Technologien. Die ist in anderen Ländern um einiges höher als in Deutschland. Andere Länder wagen es, zwei Schritte voran und einen zurückzugehen, und führen dennoch, da man Innovationen in kleinen Schritten testet, einführt und verbessert, bevor Deutschland überhaupt erst mit der Einführung beginnt. Da denke ich natürlich an die elektronische Patientenakte (ePA), die hier noch stark kritisiert wurde, als Frankreich sie schon in kleinen Scheiben hatte. Dort trat ein Lerneffekt ein, da die Bürger:innen bereits mit ihren Gesundheitsdaten konfrontiert waren. Sie konnten sich daraus ableiten, wie das fertige Produkt einmal aussehen könnte. Ähnliche Beispiele für die höhere Risikobereitschaft gibt es auch in Spanien und den Niederlanden. Wer aufpasst, was andere tun, kann aus deren Erfahrung lernen. Und das tun wir in den Gesundheitsregionen. So können wir Peers aus verschiedenen Ländern vernetzen und einen Austausch ermöglichen.
Oftmals sind die Beteiligten erst dann zu Kompromissen bereit, wenn es schon zu spät ist. Dabei könnte man frühzeitig von den Erfahrungen anderer lernen. In Deutschland wünschen wir uns, dass sich unser Hausarzt oder unsere Hausärztin persönlich viel Zeit für uns nimmt, aber dieses Modell wird es nicht mehr lange geben. In dieser Hinsicht können wir von Ländern mit einer niedrigen Bevölkerungsdichte lernen, wie den schottischen Highlands oder den skandinavischen Ländern. Hier ist die Akzeptanz der telemedizinischen Versorgung sowie des intersektoralen und interdisziplinären Datenaustauschs höher, weil man andernfalls keine Behandlung bekommt. Hier sollten wir also auf die Vorteile anderer Modelle aus dem Ausland verweisen: verminderte Reisezeit, engere Taktung der Termine oder hochwertigere sowie effizientere Versorgung durch geteilte Daten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Gesundheitsbarometer mit dem Schwerpunktthema „Kooperationen und Plattformen“
Das Interview ist Teil unseres regelmäßig erscheinenden Gesundheitsbarometers. In dieser Ausgabe diskutieren Healthcare-Expert:innen über das Gesundheitssystem der Zukunft, das zunehmend auf Plattformen und Kooperationen setzt. Wir zeigen auf, welche Potenziale dadurch gehoben werden können.
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