Ein brauner Umschlag wird über den Schreibtisch gereicht. Am anderen Ende der Tischkante sieht man ein paar Hände, dass den Umschlag nicht entgegennimmt sondern eine abwehrende Haltung einnimmt

Korruption im öffentlichen Sektor – auch im EU-Parlament?

Es geht nicht nur um den Vorfall selbst, sondern vor allem um die Reaktionen darauf.

Korruption, Geldwäsche, Bildung einer kriminellen Vereinigung und versuchte Einflussnahme aus dem Ausland, jüngst kam auch noch Betrug hinzu – die Vorwürfe im Zusammenhang mit dem EU-Parlament scheinen nicht abzureißen, und sie wiegen schwer. Mehrere Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft. Teilweise sogar trotz Immunität, denn dieser Schutz greift nicht, wenn die Betroffenen auf frischer Tat ertappt werden. Für eine abschließende Bewertung der Vorgänge ist es zu früh. Die justizielle Aufarbeitung wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Der Vorfall gibt jedoch Anlass, den Blick einmal insgesamt auf das Thema Korruption im öffentlichen Sektor zu richten.

Korruption im öffentlichen Sektor: Ein Überblick

Sollten sich die aktuellen Vorwürfe in Bezug auf Personen aus dem Umfeld des EU-Parlaments bewahrheiten, ist der Fall in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich. Nicht nur die hohe politische Stellung einiger Verdächtiger sorgt für Schlagzeilen, sondern auch die – mutmaßlichen – Hintergründe, die auf eine versuchte Einflussnahme durch Drittstaaten hindeuten. Beides macht den Fall auch innerhalb des Themenkomplexes „Korruption im öffentlichen Sektor“ besonders. Denn bei dem Phänomen geht es in der Regel um wirtschaftliche Interessen. Und die Einflussnahme setzt oftmals auf deutlich tieferen Ebenen an.

Zunächst einmal muss man sagen: „Die“ Korruption gibt es gar nicht. Genau genommen gibt es nicht einmal eine allgemeingültige oder gesetzliche Definition. Meist wird dann von „Korruption“ gesprochen, wenn eine Person die ihr anvertraute Macht missbraucht, um unredliche Vorteile für sich oder für andere zu erlangen, oder wenn umgekehrt Personen durch das Inaussichtstellen von Vorteilen zu so einem Machtmissbrauch bewogen werden sollen. Hierbei gibt es unterschiedliche Formen und Ausprägungen.

Verschiedene Formen der Korruption

Zu nennen sind dabei in erster Linie Bestechung und Bestechlichkeit (§§ 332, 334, 335 StGB). Hier werden Amtsträger:innen Vorteile versprochen oder gewährt, damit diese eine bestimmte Diensthandlung vornehmen und dadurch ihre Dienstpflichten verletzten – beispielsweise eine offizielle Genehmigung erteilen, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen. Eine andere Form ist die Vorteilsannahme und – spiegelbildlich – die Vorteilsgewährung (§§ 331, 333 StGB). Dabei geht es um Vorteile, die Amtsträger:innen für die legale Dienstausübung verlangen, erhalten oder versprochen bekommen, das heißt, ohne dafür die Dienstpflichten verletzen zu müssen. Darunter kann auch schon fallen, wenn beispielsweise ein Amtsträger Geschenke von anderen „für die gute Zusammenarbeit“ annimmt. Nicht strafbar ist so etwas nur dann, wenn die Geschenkeannahme genehmigt wurde. Dies kann beispielsweise im Rahmen einer Dienstanweisung zur Annahme von Vorteilen geschehen, in denen häufig Ausnahmen für kleine Geschenke unterhalb bestimmter Schwellenwerte enthalten sind. Die genannten Delikte können im Rahmen der internationalen Korruption (§ 335a StGB) auch in Bezug auf ausländische Bedienstete begangen werden. Die Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträger:innen bildet darüber hinaus nach § 108e StGB einen eigenen Straftatbestand.

Korruptionsdelikte im engeren Sinne gehen in der Praxis zudem regelmäßig mit weiteren Straftaten einher – insbesondere mit Geldwäsche (§ 261 StGB). Denn die Täter:innen müssen die unrechtmäßig erlangten materiellen Vorteile so verschleiern, dass sie wie legales Vermögen wirken. Nicht umsonst gilt die Eigenschaft als „politisch exponierte Person“ – also als Person, die ein hochrangiges wichtiges öffentliches Amt ausübt oder ausgeübt hat – als ein wesentlicher Risikofaktor bei der Geldwäschebekämpfung. Banken und alle anderen geldwäscherechtlich Verpflichteten müssen bei geschäftlichen Kontakten mit hochrangigen Amts- oder Mandatsträger:innen und deren Familien gesteigerte Sorgfaltspflichten erfüllen. Nicht nur in Deutschland, sondern fast überall auf der Welt.

Tatsächliche und wahrgenommene Korruption: Zahlen und Schlagzeilen

Neben der Korruption im geschäftlichen Verkehr und der Korruption im Gesundheitswesen bildet die Korruption im öffentlichen Sektor nur einen Teilbereich der Gesamtproblematik. Und die bekannt gewordenen Fälle, in denen hochrangige Politiker:innen in Korruption verstrickt sind oder es sein sollen, machen davon wiederum nur einen sehr kleinen Teil aus. Sie produzieren allerdings meist die größten Schlagzeilen – auch in Deutschland (Stichwort „Maskenaffäre“; Stichwort „Kaviar-Diplomatie“). Gemäß dem aktuellen „Bundeslagebild Korruption“ des Bundeskriminalamts (BKA) liegt die Zahl mit 24 Verdachtsfällen im Bereich der Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträger:innen in Deutschland im Jahr 2021 auf (weiterhin) niedrigem Niveau.

Korruption in der Politik macht einen kleinen Teil aus

Laut BKA ist das Ziel von Korruption in knapp der Hälfte aller Fälle die Wirtschaft; dann folgt die allgemeine Verwaltung und in noch deutlich geringem Maße betrifft es die Strafverfolgungs- und Justizbehörden. Korruption in der Politik macht mit 3,6 Prozent den kleinsten Teil des Gesamtphänomens aus. Gemäß den Zahlen des BKA stellt sich Korruption im öffentlichen Sektor hierzulande in den überwiegenden Fällen folgendermaßen dar:

  • Die Zielpersonen sind Amtsträger:innen in der allgemeinen Verwaltung, meist auf Sachbearbeiter-Ebene.
  • Die Geber kommen dabei laut Statistik in erster Linie aus der Wirtschaft, vor allem aus dem Baugewerbe.
  • Bei den auf Geberseite erhofften Vorteilen dominieren das Erlangen von Aufträgen und der Erhalt von Genehmigungen.

Sprunghafte Anstiege bei Korruption außerhalb der öffentlichen Verwaltung

Ein Blick auf die Zahlen zeigt auch, dass der Anteil der Amtsträger:innen unter den korrumpierten Personen mit 55 Prozent auf dem niedrigsten Stand seit Jahren ist, und – auch das gehört zur Wahrheit – die sogenannten nicht-tatbereiten Nehmer, also diejenigen, die ein Korruptionsangebot abgelehnt haben, waren fast ausschließlich Amtsträger:innen (94 Prozent). Zwar ist die Zahl der Verdachtsfälle von Bestechung im öffentlichen Sektor 2021 um über 28 Prozent gestiegen und befindet sich damit im Vergleich zu den Vorjahren auf einem Höchststand. Noch deutlich höhere Anstiege der Fallzahlen waren aber in den anderen Korruptionsbereichen zu verzeichnen: So nahmen beispielsweise die Fälle von Bestechung im Gesundheitswesen im selben Zeitraum um über 270 Prozent zu (ohne nennenswerten Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie). Bei den besonders schweren Fällen von Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr hat sich die Zahl der Fälle im Vergleich zum Vorjahr sogar mehr als verzehnfacht.

Mit Blick auf den öffentlichen Sektor schneidet Deutschland damit im weltweiten Vergleich sehr gut ab. Im internationalen Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International rangiert Deutschland seit Langem unter den Ländern mit der niedrigsten (wahrgenommenen) Korruption.

Ausmaß und Schäden sind kaum messbar

Statistiken und Studien können, wie auch das Bundeslagebild des BKA, das Phänomen Korruption allerdings auch immer nur in Ausschnitten erfassen. Als klassisches sogenanntes Täter-Täter-Delikt kommt Korruption meist nur durch externe Hinweise ans Tageslicht und zur Aufklärung, denn alle unmittelbar Beteiligten eines Korruptionsvorgangs machen sich strafbar und haben demnach keinerlei Interesse daran, dass dieser bekannt wird. Das Dunkelfeld der nicht erkannten Korruptionsfälle dürfte entsprechend groß sein.

Auch die Schäden, die durch Korruption entstehen, lassen sich kaum verlässlich darstellen. Das BKA beziffert den finanziellen Schaden zwar in seinem Bundeslagebild mit 61 Millionen Euro im letzten Jahr, betont aber gleichzeitig die Schwierigkeit, beispielsweise die finanziellen Schäden durch korruptiv erlangte Genehmigungen oder andere Wettbewerbsvorteile zu bemessen. Noch weniger quantifizierbar sind darüber hinaus die immateriellen Schäden, die Korruption als Gesamtphänomen verursachen kann – insbesondere ein abnehmendes Grundvertrauen der Bevölkerung in die Unabhängigkeit, Unbestechlichkeit und Handlungsfähigkeit des Staates oder in die Integrität der Wirtschaft.

Eine klare Ursache für Korruption gibt es nicht

Eine klar benennbare Ursache für Korruption gibt es nicht. Sie kommt überall auf der Welt vor, es  gibt sie seit der Antike, in unterschiedlichen Bereichen und in allen politischen Systemen. Im Grunde kann sie überall vorkommen, wo Menschen Macht und Einfluss haben. Es gibt aber Faktoren, die das Korruptionsniveau beeinflussen können. Im Hinblick auf die Korruption im öffentlichen Sektor ist – auf Makroebene – beispielsweise ein Zusammenhang mit dem Demokratisierungsgrad eines Landes erkennbar. Andere Faktoren können unter anderem die Höhe der Gehälter im öffentlichen Dienst sowie der Umfang von Transparenzregeln sein. Mit Blick auf die einzelnen Täter:innen kommen weitere Faktoren ins Spiel. So kann beispielsweise eine lange Beschäftigungsdauer von (Verwaltungs-)Mitarbeiter:innen im selben Aufgabenbereich korruptionsfördernd sein, etwa weil dadurch ein intensiverer persönlicher Kontakt zwischen potenziellen Nehmern und Gebern gefördert wird oder die Dienstaufsicht aufgrund der langen Abteilungszugehörigkeit nicht mehr so genau hinschaut.

Hat die EU Vertrauen verspielt?

Mit Blick auf das EU-Parlament und die aktuellen Korruptionsvorwürfe hört und liest man derzeit häufig davon, dass der Fall das Vertrauen in die EU-Institutionen völlig erschüttert oder die Europäische Union und ihre vielbetonten Integritätsansprüche als Ganzes unglaubwürdig gemacht habe. So weit würde ich nicht gehen. Das persönliche Vertrauen in die einzelnen Beschuldigten ist weg, mit Sicherheit. Ob dies aber auch auf die betroffenen Institutionen durchschlägt, muss sich erst noch zeigen. Denn hier geht es nicht allein darum, dass es einen mutmaßlichen Korruptionsfall gibt. Viel wichtiger ist jetzt, wie damit umgegangen wird. Wie reagieren die zuständigen Personen in den Institutionen und als wie robust erweisen sich deren Strukturen? Werden die Vorwürfe mit dem gebotenen Nachdruck aufgeklärt? Welche Lehren werden gezogen? Welche Maßnahmen werden ergriffen?

Compliance-Systeme, die keine Verdachtsfälle anzeigen, sollten skeptisch stimmen

Der Anspruch an Anti-Korruptions-Mechanismen kann nicht allein darin bestehen, dass es überhaupt keine Korruptionsfälle mehr gibt. Das wäre wohl illusorisch. Dasselbe gilt beispielsweise auch in größeren Unternehmen: Ein Compliance-System, das über längere Zeit keinerlei Verdachtsfälle zutage fördert, sollte niemanden beruhigen, sondern vielmehr skeptisch stimmen. Denn die Wirksamkeit solcher Systeme zeigt sich nicht daran, dass es überhaupt keine Verdachtsfälle mehr gibt, sondern daran, dass Verstöße nicht unentdeckt bleiben, dass sie stets aufgeklärt werden und dass sie Konsequenzen haben – für die Täter:innen, aber gegebenenfalls auch für die Organisation. Nur dann können Wiederholungen bestmöglich verhindert, zu Tage getretene Schwachstellen im Präventionssystem behoben, Transparenz hergestellt und potenzielle Nachahmer:innen abgeschreckt werden.

Das gesamte EU-Parlament verabschiedete bereits wenige Tage nach dem Bekanntwerden der Ermittlungen nahezu einstimmig eine Resolution, die einen Ausbau des EU-Lobbyregisters und der Transparenzregeln fordert. So soll das sogenannte Lobbyregister („EU-Transparenzregister“), das der öffentlichen Erfassung von Interessenvertreter:innen dient, zukünftig mit mehr Ressourcen ausgestattet werden, die Transparenzregeln sollen auch für Nicht-EU-Länder gelten und Abgeordnete zu Beginn und Ende ihrer Amtszeit eine Vermögenserklärung abgeben und volle Transparenz über ihre Nebeneinkünfte herstellen. Alles Weitere bleibt abzuwarten. Aber es scheint sich erneut eine bekannte Annahme aus der Korruptionsbekämpfung zu bestätigen, die besagt, dass es für umfassende Verbesserungen in diesem Bereich grundsätzlich drei Dinge braucht: reformbereite Entscheidungsträger:innen, passende Lösungsvorschläge und – einen Skandal.

Barbara Scheben