Nachhaltigkeit ist längst viel mehr als Umwelt- und Klimaschutz – das belegt das Kürzel ESG, das die drei Schlagwörter Environmental, Social und Governance umfasst. Nachhaltiges Wirtschaften reicht somit von Reaktionen auf den Klimawandel über Verantwortung hinsichtlich sozialer Fragen bis hin zu verantwortungsvoller Unternehmensführung durch Vorstand und Aufsichtsrat sowie nachhaltigen Finanzierungsstrategien.
Unter dem „S“ in ESG werden auch Fragen rund um die Menschenrechte einsortiert: etwa Produktions- und Arbeitsschutz, Lohngerechtigkeit und die Auswirkungen der Wirtschaftstätigkeit auf Anwohner:innen (zum Beispiel Wasserknappheit, Erosion und andere Schädigungen der Umwelt).
Soziale Kriterien und die Einhaltung von Menschenrechten im Wirtschaftsleben, insbesondere in Lieferketten, genießen immer größere öffentliche Beachtung. Damit wachsen Risiken für Unternehmen. Was hieran problematisch ist und was Geschäftsführungen jetzt tun sollten, haben wir mit dem Compliance-Experten Dr. Albrecht Muser von KPMG Law erörtert.
Herr Dr. Muser, welche Rolle spielen Menschenrechte heute für Unternehmen?
Dr. Albrecht Muser: Neben klassischen Anwendungsbereichen wie dem Arbeitsrecht treten auch andere Anwendungsbereiche in den Fokus, vor allem im internationalen Kontext. Das belegt zum Beispiel die Berichtspflicht gemäß § 289c Abs. 2 Nr. 4 HGB oder das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), das am 1. Januar 2023 in Kraft tritt. Sein voller Titel „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten“ weist explizit auf das Thema hin. Der Schutz der Menschenrechte ist selbstverständlich richtig, dennoch ist im Rahmen der gesetzlichen Umsetzung die zunehmende Bedeutung für die Wirtschaft auch kritisch zu sehen.
Weshalb?
Dr. Albrecht Muser: Nach der traditionellen Dogmatik definieren die Menschenrechte das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen und Bürgern – zum Beispiel das Recht auf Leben und auf Selbstbestimmung, das Recht auf faire Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen Gericht oder der Schutz vor willkürlichen Eingriffen in die Privatsphäre, etwa die Unverletzlichkeit der Wohnung.
Die Menschenrechte werden in erster Linie als Abwehrrechte gegen staatliche Gewalt betrachtet. Insofern binden die Gesetze und internationalen Abkommen, die diese Rechte beinhalten, zunächst Staaten und lediglich mittelbar auch private Unternehmen. Wir stellen aber einen Wandel fest: Durch die wachsende Bedeutung von ESG wird den Menschenrechten zunehmend eine (zumindest faktisch) unmittelbar drittwirkende Rolle zugedacht. Das heißt, Unternehmen wird eine unmittelbare Bindung auferlegt.
Was ist hieran problematisch?
Dr. Albrecht Muser: Der Begriff der „Menschenrechte“ ist inhaltlich vergleichsweise unbestimmt. Menschenrechte sind in verschiedenen Kodifikationen geregelt, beispielsweise im Grundgesetz, in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder auf internationaler Ebene im UN-Zivilpakt und UN-Sozialpakt, die auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 fußen. Zwar gibt es durchaus einen festen Kern an geschützten Bereichen, der allgemein anerkannt ist. Nichtsdestoweniger sind die Begrifflichkeiten hier zum Teil uneinheitlich und es bestehen inhaltliche Unschärfen. Dies führt in der Rechtsprechung (und auch in der juristischen Literatur) zu teilweise uneinheitlichen Auslegungen.
Zwar definiert z. B. das LkSG bestimmte Verstöße gegen Menschenrechte, deren Verhinderung Gegenstand der unternehmerischen Sorgfaltspflicht ist. Gleichwohl stellt sich aus meiner Sicht die Frage, wie praxistauglich für konkrete Verpflichtungen der Begriff der Menschenrechte im Allgemeinen sowie die z. B. im LkSG vorgenommenen Konkretisierungen tatsächlich sind. Bei einer unmittelbaren Wirkung auf die Privatwirtschaft stehen hier durchaus Rechtsunsicherheiten und daraus folgend erhöhte Risiken für Unternehmen zu befürchten. Um dem umfassend zu begegnen, werden die Unternehmen einen erheblichen Aufwand betreiben müssen.
Welche Risiken sehen Sie hier?
Dr. Albrecht Muser: Beispielsweise die im LkSG genannten Verstöße gegen Menschenrechte sind mit Sanktionen bewehrt. Es stellt sich dann im konkreten Einzelfall die Frage: Liegt nach dem tatsächlichen Sachverhalt ein Menschenrechtsverstoß vor oder nicht? Vielfach wird es sich um Sachverhalte in anderen Teilen der Welt im Rahmen von Lieferketten handeln, zum Beispiel in Produktionsstätten in Südostasien. Eine umfassende Sachverhaltsermittlung wird daher gewisse Schwierigkeiten aufwerfen. Die Frage nach einem tatsächlichen Verstoß wird deshalb womöglich nicht eindeutig zu beantworten sein. Gleichwohl besteht das Risiko, dass die zuständige Behörde Bußgelder verhängt.
Dagegen könnte das sanktionierte Unternehmen den weiteren Rechtsweg beschreiten, Widerspruch einlegen und so weiter.
Dr. Albrecht Muser: Sicherlich. Doch angesichts der zunehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit würde das Unternehmen möglicherweise ein negatives mediales Echo – „Das Unternehmen XY wurde wegen eines Menschenrechtsverstoßes zur Zahlung eines Bußgeldes verdonnert und wehrt sich auch noch dagegen!“ – und damit einen Reputationsschaden riskieren. Ob sich die Unternehmen hierauf einlassen, wird sich zeigen.
Insoweit stellt sich zumindest die Frage, ob die unmittelbare Anwendung tatsächlich der Rechtssicherheit dient. Hinzu kommt: Das Risiko, für eine mögliche Menschenrechtsverletzung in der Lieferkette haftbar gemacht zu werden, kann dazu führen, dass Unternehmen sich aus bestimmten Märkten zurückziehen – ohne dass sich die Menschenrechtsbedingungen vor Ort wirklich verbessern.
Ungeachtet dessen ist eine Beachtung des Themas für Unternehmen aber unerlässlich, da ihnen hier eine Verantwortung in Bezug auf soziale Nachhaltigkeit zugesprochen wird.
Dr. Albrecht Muser: Das stimmt. Angesichts der wachsenden Bedeutung von ESG wird das öffentliche Interesse für das Thema Menschenrechte und soziale Verantwortung im Wirtschaftsleben in den kommenden Jahren weiter steigen. Die gerichtliche Durchsetzung von Menschenrechten bzw. die gerichtliche Ahndung von Menschenrechtsverstößen – oder zumindest der Versuch einer solchen Durchsetzung bzw. Ahndung – wird zunehmen. Daher kann es für Unternehmen zu erheblichen Problemen führen, wenn sie sich nicht rechtzeitig mit den spezifischen Fragestellungen auseinandersetzen.
Was raten Sie Unternehmen?
Dr. Albrecht Muser: Um Haftungs- und Reputationsrisiken zu vermeiden, ist eine Beachtung von Menschenrechten bzw. den sich hieraus ergebenden und in einzelnen Gesetzen näher spezifizierten Sorgfaltspflichten, im Rahmen der Unternehmensführung zwingend. Unternehmen müssen prüfen, wo es in den internen Prozessen und Lieferketten möglicherweise offene Flanken gibt, und analysieren, inwieweit ihr Geschäftsmodell und ihre Wertschöpfungskette potenziell mit Menschenrechtsrisiken verbunden sind – und zwar nicht nur im Hinblick auf eine eventuelle juristische Ahndung, sondern auch eine mediale Aufmerksamkeit und mögliche Imageschäden. Auf Grundlage der Analyse können dann passende Maßnahmen beschlossen und umgesetzt werden. Zudem sollten Menschenrechtsaspekte angemessen gesteuert und die Einhaltung der Vorgaben laufend geprüft werden.
Wie detailliert eine solche Menschenrechts-Due-Diligence erfolgt, hängt vom jeweiligen Unternehmen ab. Bei größeren Unternehmen sehen wir aber z. B. bereits erste Bestrebungen, die Position eines/einer Menschenrechtsbeauftragten einzurichten, der/die die Risiken kontinuierlich beobachtet und bewertet und die Geschäftsführung im Sinne einer verantwortungsvollen Governance unterstützt. In jedem Fall müssen sich die Compliance-Verantwortlichen hinreichend mit dem Thema befassen.